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Zur Kulturgeschichte.
Heile gezwungen, auch die Hansastädte Hanrburg nnb Bremen, die früher
nicht hatten eintreten wollen. Dann fehlten auch im Innern des Zoll¬
vereins noch viele Dinge zur Einheit, die erst das Reich ergänzt hat;
wir können uns heute kaum noch vorstellen, daß man noch 1870 von Berlin
nach Hamburg fahrend dreierlei Geld in der Tasche habeil mußte. Einheit
von Münze, Maß nnb Gewicht ist erst durch das Reich geschaffelt worden.
Man sonnte hierin gleich einschließen die Reichsbank, die Reichspost mid die
sonstigen Verkehrseinrichtungen, auch die, die über das Reichsgebiet hinaus¬
greisen, wie der Weltpostverein; ferner die Rechtseinheit, die gleichmäßige
GewerbegesetzgeblUlg. Mit ihnell in innerlichem Zusanunenhaug stand die
Aushebung aller bis dahin lloch festgehaltenen Bewegungsbeschränkmlgen,
die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, das Vereinsrecht, Aufhebung des
Paßzwanges, und lvas alles baranf hinauskommt, das Individuum von den
Schranken einer freien Kräfte - Entfaltmig zu befreien. Hier bestand die
Wechselwirkung voll Staat und Volkswirtschaft wesentlich in der Zerstörllng
rückständiger, veralteter Formen lmd infolge dessen einer Scheidullg lind
Trennung voll einander.
Nun aber, gegell Ende der siebziger Jahre, kam der vollkonnnene
Ulnschwung, da trat die Periode ein, die wir als eine Wiederaufnahme der
Schutzzollprinzipien, verbunden mit einer sozialen Gesetzgebung, zll bezeichnen
haben. Wie ist dieser Ulnschwung nun zu erklären?
Zunächst müssen wir beachten, daß in die Regierung Kaiser Wilhelms
ein sehr merkwürdiger Abschnitt unserer wirtschaftlichen Entwicklllng fällt.
In der ersten Hälfte linseres Jahrhilnderts war Prellßen nnb der Zollverein
ein Getreide expvrtierelldes Lalld. Man spricht heute viel von einem
„Industriestaat". Wallll fängt der Industriestaat an? Es hat noch kaum
einen Staat gegeben, der nicht beides zugleich, den Ackerbau neben der
Industrie betrieben hätte. Man könnte sagen, der Industriestaat fängt da
an, wo Getreide importiert werden muß, weil das Land selbst für seine
Ernährung nicht genug hervorbringt, und das begalln in Deutschland mit
dem Roggen schon in den fünfziger Jahren und mit dem Weizen anfangs
der siebziger Jahre. Mit diesen: Wechsel war natürlich eine ganz lleue
Grulldlage für alle Handelsbetrachtungen gegebell, und nun geschah es, daß
in eben diesen siebziger Jahren ein allgemeiner Preissturz sich einstellte, ein
Sinken der Preise, das bis auf ben heutigen Tag anhält, das sich aus alle
Gegenställde erstreckt, ganz besonders aber auf die Agrarprodukte. Unsere Land-
lvirte in: Osten waren geivvhnt, für ihrell Roggen 140 bis 150 Mk. per Tonne
zu bekommen, nnb im Laufe der Jahre ist der Weltniarktpreis ans 90, 80,
70 und lloch weniger herllntergeslnikell. So entstand die landwirtschaftliche
Not und aus ihr die agrarische Bewegung, lind da ein großer Teil der
Industrie ebenfalls unter den niedergehenden Preisen zu leiden hatte, so kam