Full text: Lese- und Hilfsbuch für den Unterricht im Deutschen an Gymnasien und anderen höheren Bildungsanstalten

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Bewußtheit gearbeitet. Nirgends zeigt er sich so sehr als vollendeter 
Künstler. 
Wir stehen inmitten unserer nächsten Umgebung. Mit wunderbarster 
Lebendigkeit und Naturwahrheit zeigt sich das Alltäglichste und Gewohnteste. 
Solche behaglich gesprächige Sommersonntagsnachmittage, wie sie hier 
der Wirt vom goldenen Löwen mit seiner trefflichen Gattin und den 
trauten Hausfreunden verplaudert, haben wir alle durchlebt. Der wohl- 
häbige, gutmütig launenhafte Vater, die geschäftig mütterliche Hausfrau, 
der mild verständige Pastor, der kleinbürgerlich kluge Apotheker, selbst 
Hermann, der schüchtern ungelenke und doch so liebenswürdig tüchtige 
Jüngling, erscheinen uns von Anbeginn wie alte liebe Bekannte, denen 
wir schon oft im Leben begegneten. Doch das für den einfach hoheits¬ 
vollen Eindruck des Gedichts Entscheidende ist, daß diese frische Natur¬ 
wahrheit nichtsdestoweniger voll der wirksamsten Idealität ist. Es ist 
nach Goethes eigenem Ausdruck die Existenz einer kleinen deutschen Stadt, 
im epischen Tiegel von ihren Schlacken geläutert, auf das rein und schön 
Menschliche zurückgeführt. Das Enge und Kleine kommt nur insoweit 
zum Vorschein, als es gilt, die Charaktere auf festen Boden zu stellen; 
das Wesen und der Kern dieser Charaktere aber, der Antrieb und Be¬ 
stimmungsgrund ihres Empfindens lind Handelns ist immer und überall 
nur die schönheitsvoll schlichte Einfalt naiver Natur und Ursprüng¬ 
lichkeit. „Deutschen selber führ' ich euch zu, in die stillere Wohnung, wo 
sich, nah der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht." Und dieselbe 
schlichte, natnrvolle Hoheit auch im Gegenbild der wandernden Gemeinde, 
im Richter und in der heldenhaften Mädchengestalt Dorotheas, nur weit¬ 
blickender und lebengeprüfter. 
Und wir stehen inmitten unseres eigensten tiefsten Gefühlslebens. Die 
wunderbarste Zartheit und Seeleninnigkeit in der Ausgestaltung des Grund¬ 
motivs, in der Schilderung der entstehenden, wachsenden und sich erfüllenden 
Liebe der beiden Liebenden; eine Offenbarung unergründlichster Gemüts- 
innerlichkeit, die die Grenzen antiker Empfindungsweise weit überschreitet. 
Doch das für den einfach hoheitsvollen Eindruck des Gedichts Entscheidende 
ist, daß in diesen naiv kräftigen Naturen diese Liebe nichtsdestoweniger 
nichts von moderner Überschwenglichkeit und Empfindungsseligkeit weiß, 
sondern eine unbefangen gesunde, fast möchte man sagen, urwüchsig elementare 
ist. Und die drängenden äußeren Ereignisse, die hier dieselbe Stellung 
einnehmen wie das bestimmende Eingreifen der Götter im alten Epos, 
fordern rasche Entschließung und Entscheidung, festen Kampf gegen Hemmnis 
und Widerstand. Auf die kunstvollste und doch zwingend glaubwürdigste 
Weise ist die echt plastische Situation herbeigeführt, daß das Erwachen 
und Emporwachsen der Liebe sich wesentlich als naive heroische Kraft, 
als unbesiegbare Hoheit und Willensstärke zu entfalten und zu bethätigen hat-
	        
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