405
Bewußtheit gearbeitet. Nirgends zeigt er sich so sehr als vollendeter
Künstler.
Wir stehen inmitten unserer nächsten Umgebung. Mit wunderbarster
Lebendigkeit und Naturwahrheit zeigt sich das Alltäglichste und Gewohnteste.
Solche behaglich gesprächige Sommersonntagsnachmittage, wie sie hier
der Wirt vom goldenen Löwen mit seiner trefflichen Gattin und den
trauten Hausfreunden verplaudert, haben wir alle durchlebt. Der wohl-
häbige, gutmütig launenhafte Vater, die geschäftig mütterliche Hausfrau,
der mild verständige Pastor, der kleinbürgerlich kluge Apotheker, selbst
Hermann, der schüchtern ungelenke und doch so liebenswürdig tüchtige
Jüngling, erscheinen uns von Anbeginn wie alte liebe Bekannte, denen
wir schon oft im Leben begegneten. Doch das für den einfach hoheits¬
vollen Eindruck des Gedichts Entscheidende ist, daß diese frische Natur¬
wahrheit nichtsdestoweniger voll der wirksamsten Idealität ist. Es ist
nach Goethes eigenem Ausdruck die Existenz einer kleinen deutschen Stadt,
im epischen Tiegel von ihren Schlacken geläutert, auf das rein und schön
Menschliche zurückgeführt. Das Enge und Kleine kommt nur insoweit
zum Vorschein, als es gilt, die Charaktere auf festen Boden zu stellen;
das Wesen und der Kern dieser Charaktere aber, der Antrieb und Be¬
stimmungsgrund ihres Empfindens lind Handelns ist immer und überall
nur die schönheitsvoll schlichte Einfalt naiver Natur und Ursprüng¬
lichkeit. „Deutschen selber führ' ich euch zu, in die stillere Wohnung, wo
sich, nah der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht." Und dieselbe
schlichte, natnrvolle Hoheit auch im Gegenbild der wandernden Gemeinde,
im Richter und in der heldenhaften Mädchengestalt Dorotheas, nur weit¬
blickender und lebengeprüfter.
Und wir stehen inmitten unseres eigensten tiefsten Gefühlslebens. Die
wunderbarste Zartheit und Seeleninnigkeit in der Ausgestaltung des Grund¬
motivs, in der Schilderung der entstehenden, wachsenden und sich erfüllenden
Liebe der beiden Liebenden; eine Offenbarung unergründlichster Gemüts-
innerlichkeit, die die Grenzen antiker Empfindungsweise weit überschreitet.
Doch das für den einfach hoheitsvollen Eindruck des Gedichts Entscheidende
ist, daß in diesen naiv kräftigen Naturen diese Liebe nichtsdestoweniger
nichts von moderner Überschwenglichkeit und Empfindungsseligkeit weiß,
sondern eine unbefangen gesunde, fast möchte man sagen, urwüchsig elementare
ist. Und die drängenden äußeren Ereignisse, die hier dieselbe Stellung
einnehmen wie das bestimmende Eingreifen der Götter im alten Epos,
fordern rasche Entschließung und Entscheidung, festen Kampf gegen Hemmnis
und Widerstand. Auf die kunstvollste und doch zwingend glaubwürdigste
Weise ist die echt plastische Situation herbeigeführt, daß das Erwachen
und Emporwachsen der Liebe sich wesentlich als naive heroische Kraft,
als unbesiegbare Hoheit und Willensstärke zu entfalten und zu bethätigen hat-