Full text: Lese- und Hilfsbuch für den Unterricht im Deutschen an Gymnasien und anderen höheren Bildungsanstalten

III. Abteilung. 
Abhandlungen, Reden, Briefe, Sprüche und 
Aphorismen. 
Won der Ausbildung der Schüler in Aede und Sprache 
von Herder. 
1796. 
Wie Rede und Sprache den Menschen vom Tiere unterscheidet, so 
gibt es eine Kunst der Sprache und Rede, die unter den Menschen selbst 
vielleicht einen so großen Unterschied macht als die Rede zwischen Tieren 
und Menschen. In der wenigen Zeit, die mir hier vergönnt ist, werde 
ich zeigen, daß diese Kunst der Rede und Sprache in Kindern und Jüng¬ 
lingen auszubilden ein Hauptgeschäft der Schule sein müsse. 
Wenn wir auf die Welt treten, können wir zwar schreien und weinen, 
aber nicht sprechen und reden; wir äußern nur tierische Laute. Manche 
Völker und Menschen verfolgen diese tierischen Laute durchs ganze Leben. 
Man stelle sich in eine Entfernung, in der man den Schall der Stimme 
und die Accente nicht vernimmt, so hört man zwar bei einigen Menschen 
beit Truthahn, die Gans, die Ente, bei manchen Rednern den Pfau, die 
Rohrdommel und bei affektierenden Schönlingen den natürlichen Kanarien¬ 
vogel, nur nicht eben eine menschliche Stimme. Unser Thüringen hat 
viel Gutes aber keinen angenehmen Laut der Sprache, welches man dann 
am meisten inne wird, wenn man, wie oft der Fall ist, zwar Töne, in¬ 
einandergezogene Töne hört, aber den Sinn der Rede nicht versteht. 
Jünglinge, die diesen unangenehmen Dialekt bloßer Tierlaute an sich 
haben, sie mögen aus Städten oder vom Lande her sein, müssen sich alle 
Mühe geben, im Gymnasium eine menschliche, natürliche, charakter- und 
seelenvolle Sprache zu bekommen und von ihrer bäuerischen oder schreien¬ 
den Gassenmundart sich zu entwöhnen. Sie müssen das Bellen und 
Belfern, das Gackeln und Krächzen, das Verschlucken und Jneinander- 
schleppen der Worte und Silben abdanken und statt der Tier- die Menschen-
	        
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