IV. Fabeln, Parabeln, Sprichwörter.
74. Die Pfauen und die Krähe.
Gotthold Ephraim Lessing.
Eine stolze Krähe schmückte sich mit den ausgefallenen Federn der
farbigen Pfauen und mischte sich kühn, als sie genug geschmückt zu sein
glaubte, unter diese glänzenden Vögel der Juno. Sie ward erkannt,
und schnell fielen die Pfauen mit scharfen Schnäbeln auf sie, ihr den
betrügerischen Putz auszureißen.
„Lasset nach!" schrie sie endlich- „ihr habt nun alle das Eurige
wieder." Doch die Pfauen, die einige von den eignen glänzenden Schwung¬
federn der Krähe bemerkt hatten, versetzten: „Schweig', armselige Närrin;
auch diese können nicht dein sein!" — und hackten weiter.
75. Oer Oeirige.
Gotthold Ephraim Lessing.
„Ich Unglücklicher!" klagte ein Geizhals seinem Nachbar. „Man
hat mir den Schatz, den ich in meinem Garten vergraben hatte, diese
Nacht entwendet und einen verdammten Stein an dessen Stelle
gelegt."
„Du würdest," antwortete ihm der Nachbar, „deinen Schatz
doch nicht genutzt haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein
Schatz, und du bist nichts ärmer."
„Wäre ich auch schon nichts ärmer," erwiderte der Geizhals,
„ist ein andrer nicht um so viel reicher? Ein andrer um so viel
reicher? Ich möchte rasend werden."