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aus. Ach, vor wenig Monaten hatten sie den Vater hinausgetragen auf
den Gottesacker; während seiner langen Krankheit war ein Stück Haus¬
gerät nach dem andern verkauft worden, und nun stand die arme Mutter
mit ihren Kindern in der größten Not und Armut allein da. Wohl
arbeitete sie vom frühen Morgen bis in die späte Nacht; aber was sie
verdiente, reichte nicht hin, sich und ihre Kinder zu ernähren; denn die
Mutter war schwach und kränklich.
Eines Abends sagte sie zu ihren Kindern: „Meine lieben Kinder,
heut kann ich euch kein Abendbrot geben, ihr müßt hungrig zu Bett gehen;
ich habe nur noch ein kleines Stück Brot für morgen früh. Bittet den
lieben Gott, daß er uns bald Hilfe schickt, damit wir nicht verhungern!"
Bittre Tränen rannen über die Wangen der Mutter, als sie so zu ihren
Kindern sprach. Aber Hannchen, das älteste Töchterchen, sagte: „Ach,
liebe Mutter, gräme dich nicht so sehr; sieh, wir sind gar nicht hungrig."
Still und ruhig gingen die Kinder zu Bett. Die Mutter aber saß noch
lange bei ihrer Arbeit, und immer reichlicher flössen ihre Tränen. „O
lieber Gott," betete sie, „hilf mir in meiner Not! Ich will ja gern alles
entbehren; aber wenn ich meine lieben Kinder muß hungern sehen, dann
bricht mir das Herz. Erbarme dich über uns!"
Endlich suchte auch sie ihr Lager auf; aber lange konnte sie nicht
einschlafen. Als nun aber am andern Morgen die Sonne so freundlich
in ihr Stübchen schien und ihre Kinder sie voll Liebe umarmten, da war
sie getrösteter. Sie nahm das letzte Stücklein Brot und teilte es unter
ihre Kinder. „Eßt, liebe Kinder," sprach sie, „es ist zwar das letzte, was
ich euch geben kann; aber ich weiß gewiß, Gott wird schon für uns sorgen."
Hannchen aber schob ihr Stücklein Brot der Mutter hin und sagte: „Liebe
Mutter, nimm du mein Stückchen, ich bin nicht hungrig. Sieh, als ich
gestern abend in meinen: Bette lag und zu dem lieben Gott betete, da
kam mir auf einmal der Gedanke: Dort in dem Walde hat der liebe Gott
so viel Erdbeeren wachsen lassen, die sind jetzt reif; ich will hingehen und
ein Körbchen voll pflücken; die reichen Leute werden sie mir gern ab¬
kaufen, und dann haben wir wieder Geld zu Brot." — „Geh mit Gott,
mein Kind," sprach die Mutter, „ich will auch fleißig arbeiten, damit ich
etwas verdiene."
II.
Fröhlich nahm Hannchen ihr Körbchen und ging nach dem Walde.
Am Eingänge desselben begegnete ihr ein vornehmer Herr in schönen
Kleidern; aber recht traurig sah er aus. Er erblickte Hannchen und blieb
staunend vor ihr stehen. „O Gott," rief er aus, „wie sehr gleicht doch
dies Kind meinem Klärchen, das wir gestern ins Grab gelegt haben!" Es
war, als ob in seinem Herzen eine Stimme riefe: „Sieh, da schickt dir
Gott eine andere Tochter für die verlorene."
Er fragte Hannchen, wer sie sei und wie sie heiße, und Hannchen