Full text: (Sechstes und siebentes Schuljahr) (Teil 3 für Kl. 4 u. 3)

50 
er ihn beim Einrollen einer sehr großen Geldsumme und sah es ihm 
deutlich an, daß er ungelegen kam. Der Kaufmann strich unwillig 
das Geld in eine Schublade des Tisches und wollte eben eine unwirsche 
Frage tun, als er sich noch besann und Gellert höflich grüßte. 
Geliert setzte sich und sagte: „Von Ihnen kann man gewiß viel 
Gutes lernen; denn ein so gesegneter Mann wie Sie wird es nicht 
unterlassen, von seinem Reichtume den gesegnetsten Gebrauch zu machen. 
Sie kennen gewiß die große Kunst, anderen wahrhaft wohlzutun." Der 
Kaufmann, der mit seinen Gedanken noch halb bei seinem Gelde war, 
verstand nicht recht, was Gellert wollte, und antwortete sehr zerstreut: 
„Ach ja, ganz recht!" 
Gellert fuhr fort, mit der Wärme seines edlen Herzens von den 
Freuden des Wohltuns und der Menschenliebe zu reden. Selbst noch 
ergriffen von dem Schicksal der armen Frau, sprach er so ergreifend, 
daß der Geizhals in seines Herzens Grunde bewegt wurde. Da öffnete 
sich die Tür, und die arme Frau trat herein und legte die dreißig 
Taler auf den Tisch, indem sie sagte: „Da haben Sie das Geld! Aber 
nun geben Sie mir auch das Briefchen wieder, das mein armer, kranker 
Mann geschrieben hat, damit Sie uns nicht aus dem Hause werfen 
lassen!" Noch erfüllt von Gellerts schönen Worten, geriet der Kaufmann 
in große Verlegenheit. 
Er suchte das zu bemänteln und sagte: „Ei, das hätte ja Zeit 
gehabt! Wie kann Sie nur so reden? Sie sieht ja, daß ich — 
Besuch — habe! — doch —". Er besann sich schnell; der Geldhunger 
übermannte ihn, und er begann das auf dem Tische liegende Geld zu 
zählen. 
„Ja, ja," sagte die Frau, „Zeit hin, Zeit her! Sie haben mich 
heute früh hart angefahren. Einen kranken Mann und vier todkranke 
Kinder, kein Geld für Arzenei, keins für Brot; ach, das ist hart! 
Und nun noch aus dem Hause geworfen werden, das ist entsetzlich! 
Als ich in der Verzweiflung herumlief, da begegnete ich da diesem 
Herrn —" (Gellert winkte ihr, zu schweigen). „Ja," fuhr sie fort, 
winken Sie nur, ich muß es doch sagen — der gab mir das Geld." 
Der karge Reiche fuhr betroffen herum und sah Gellert an. Was 
dieser ihm eben gesagt, war noch frisch in seinem Gedächtnisse. „Sie 
haben das getan?" fragte er mit Erstaunen. Tief ergriffen von dem 
Gedanken, daß der arme Gellert das getan, wandte er sich jetzt zu 
der Frau und sagte: „Hier haben Sie das Briefchen, aber auch
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.