Brüderchen und Schwesterchen. 99
sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an überlaut zu
schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Hause vorbei und
dachte: „Wie die alte Frau schnarcht! Du mußt doch sehen,
ob ihr etwas fehlt.“ Da trat er in die Stube, und wie er vor
das Bett kam, so sah er, daß der Wolf darin lag. „Finde ich
dich hier, du alter Sünder,“ sagte er, „ich habe dich lange
gesucht.“ Nun wollte er seine Büchse anlegen; da fiel ihm
ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben, und sie
wäre noch zu retten, schoß’ nicht, sondern nahm eine Schere
und fing an, dem schlafenden Wolfe den Bauch aufzuschneiden.
Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote
Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das
Mädchen heraus und rief: „Äch, wie war ich erschrocken, wie
war’s so dunkel in des Wolfes Leib!“ Und dann kam
die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte
kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine,
damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte,
wollte er fortspringen. Die Steine aber waren so schwer, daß
er gleich niedersank und sich tot fiel.
6. Da waren alle "drei vergnügt. Der Jäger zog dem
Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß
den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht
hatte, und erholte sich wieder. Rotkäppchen aber dachte: „Du
willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den
Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.“
109. Brüderchen und Zchwesterchen.
Brüder Grimm.
1. Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach:
„Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr;
die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen,
stößt sie uns mit den Füßen fort. Oie harten Brotkrusten, die
übrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Hündlein unter dem
Tisch geht's besser; dem wirft sie doch manchmal einen guten Bissen
zu. Daß Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wüßte! Komm,