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alle Vorsicht; ohne an die Warnung der Totenkönigin zu denken,
zitternd vor Angst und Liebe, wandte er sich um, und —o Jammer!
Eurydice, welche dicht hinter ihm gefolgt war, schwebte nun zurück
in die schaurige Tiefe der Unterwelt. Immer ferner sah der
Unglückliche das traurige, blasse Antlitz der Geliebten; umsonst
streckte er seine Arme nach ihr aus und beschwor sie mit den
zärtlichsten Worten, ihm doch nicht zu entfliehen. „Leb' wohl, du
Lieber!" so hörte er die bleichen Lippen flüstern, dann entschwand
sie seinen Augen.
Lange stand Orpheus starr vor Jammer da; dann stürzte er
verzweiflungsvoll der Entschwundenen nach. Aber als er wieder
zu dem finsteren Fährmann kam, da wehrte ihn dieser barsch und
unfreundlich ab und weigerte sich, ihn zum zweitenmal nach der
Totenwelt überzufahren. Sieben Tage und sieben Nächte saß der
arme Orpheus am Ufer des schwarzen Stromes; kein Trunk erquickte
ihn, keine Speise labte ihn. Unaufhörlich flehte und bat er um
Gnade; aber er fand nicht zum zweitenmal Erbarmen.
So mußte er denn allein, tiefes Weh im Herzen, auf die Oberwelt
zurückkehren. Er suchte seine Heimat auf und lebte dort einsam,
die Gesellschaft der Menschen fliehend, noch drei kummervolle Jahre.
In der Stille des Waldes sang er die lieblichsten und wehmütigsten
Lieder, und dann kamen die Tiere des Waldes herbei, die Vöglein
flogen zu ihm hin, und selbst die Bäume rückten näher heran;
denn alle wollten den Zaubertönen des Sängers lauschen.
Endlich aber stand sein Herz still, und sein Mund verstummte
auf ewig. Den Leichnam bestatteten die Tiere des Waldes. Die
Seele aber schwebte hinab ins Totenreich. Hier fand der treue
Gatte sein geliebtes Weib wieder, und nun weilten sie beide, auf
ewig ungetrennt, in den wonnigen Gefilden, wohin die guten,
schuldlosen Menschen nach dem Tode kommen.
119. Herakles.
Heinrich Wilhelm Sioll.
1.
Herakles, von den Römern Herkules genannt, ist der größte Held
der griechischen Sage. Er ist der Sohn des Zeus und der Alkmene;
sein irdischer Vater war Amphitryon, der König von Tiryns. Zeus
Breidenstein, Mittelschullesebuch III. Westpreutzen. 10