Full text: (Sechstes und siebentes Schuljahr) (Teil 3 für Kl. 4 u. 3)

3. Leberecht Hühnchen. 
Heinrich Seidel. 
Ich hatte zufällig erfahren, daß mein guter Freund und Studien¬ 
genosse Leberecht Hühnchen schon seit einiger Zeit in Berlin ansässig 
sei und in einer der großen Maschinenfabriken vor dem Oranienburger 
Tor eine Stellung einnehme. Wie das wohl zu geschehen pflegt, ein 
anfangs lebhafter Briefwechsel war allmählich eingeschlafen, und schlie߬ 
lich hatten wir uns ganz aus den Augen verloren. Das letzte Lebens¬ 
zeichen war die Anzeige seiner Verheiratung gewesen, die vor etwa 
sieben Jahren in einer kleinen westfälischen Stadt erfolgt war. Mit 
dem Namen dieses Freundes war die Erinnerung an eine heitere Studien¬ 
zeit auf das engste verknüpft, und ich beschloß sofort, ihn aufzusuchen, 
um den vortrefflichen Menschen wiederzusehen und die Erinnerung an 
die gute alte Zeit aufzufrischen. 
Leberecht Hühnchen gehörte zu den Bevorzugten, denen eine gütige 
Fee das beste Geschenk, die Kunst, glücklich zu sein, aus die Wiege gelegt 
hatte, er besaß die Gabe, aus allen Blumen, selbst aus den giftigen, 
Honig zu saugen. Ich erinnere mich nicht, daß ich ihn länger als fünf 
Minuten verstimmt gesehen hätte, dann brach der unverwüstliche Sonnen¬ 
schein seines Innern siegreich wieder hervor, und er wußte auch die 
schlimmste Sache so zu drehen und zu wenden, daß ein Rosenschimmer 
von ihr ausging. Er hatte in Hannover, wo wir zusammen die Technische 
Hochschule besuchten, eine ganz geringe Unterstützung von Hause und 
erwarb sich das Notdürftige durch schlecht bezahlte Privatstunden, dabei 
schloß er sich aber von keiner studentischen Zusammenkunft aus und, was 
für mich das Rätselhafteste war, er hatte fast immer Geld, so daß er 
andern etwas zu borgen vermochte. 
Eines Winterabends befand ich mich in der, ich muß es gestehen, 
nicht allzu seltenen Lage, daß meine sämtlichen Hilfsquellen versiegt 
waren, während mein Wechsel erst in einigen Tagen eintreffen konnte. 
Nach sorgfältigem Umdrehen aller Taschen und Aufziehen sämtlicher 
Schubladen hatte ich noch dreißig Pfennig zusammengebracht, und mit 
diesem Besitztum, das einsam in meiner Tasche klimperte, schlenderte ich 
durch die Straßen, in eifriges Nachdenken über die vorteilhafteste Anlage 
dieses Kapitals versunken. In dieser Gedankenarbeit unterbrach mich 
Hühnchen, der plötzlich mit dem fröhlichsten Gesicht von der Welt vor 
mir stand und mich fragte, ob ich ihm nicht drei Taler leihen könne. Da 
ich mich nun mit der Absicht getragen hatte, ein ähnliches Ansinnen an
	        
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