322
die Wiese hinein, daß man glauben möchte, ein Stück blauen Himmels
mit seinen Sternen sei auf grünen Sammet niedergefallen.
Wie heißen denn die schönen Blumenkinder?
Als der liebe Gott Himmel und Erde erschaffen hatte und alles,
was auf Erden ist, da benannte er auch die Pflanzen. Es kamen Blumen
mancherlei Art, und jeder gab der Herr bedeutungsvoll einen Namen.
„Aber," fügte er hinzu, „gedenket stets des Namens, den ich euch ge¬
geben habe!"
Siehe! Bald darauf kam ein Blümchen, angetan mit der Farbe.
des Himmels und der Sterne, bläulich schimmernd und goldgelb, und
sprach: „Herr! wie hast du mich genannt? Ich habe meinen Namen
vergessen."
Da hob der Herr den Finger, sah mit ernstem Blick das Blümlein
an und sprach: „Vergiß mein nicht!"
Da schämte sich das Blümchen und zog sich zurück an den stillen
Bach in das dunkle Gebüsch und trauerte und heißt Vergißmeinnicht
bis auf den heutigen Tag.
2. Neben der Rose mag es kaum eine Blume geben, um die die
Dichtung so oft und gern ihre Lieder rankte, als das Vergißmeinnicht.
Auch mögen sich kaum zwei Blumen finden, die sich in ihrem Äußern so
wenig ähnlich sind wie diese beiden Lieblinge unsrer Dichter.
Woher denn aber die Vorliebe der Menschen für unser Vergißmein¬
nicht?
Der Dichter gibt die Antwort darauf:
„Warum so sehr geliebt du, stilles Blümchen, bist?
Daher, weil du nicht weißt, wie wunderschön du'bist! —
Und wohl! In dieser Bescheidenheit mag der eigentümliche Reiz
der schönen Blume liegen.
Der unten gekantete Stengel mit den schmalen, wechselständigen
Blättern legt sich schüchtern auf den Boden ins feuchte Gras und hebt
sich nur mit der Spitze empor, an der die blauen Blumen in gebogner
Traube angeheftet sind. Der obere Teil der Traube ist dicht gedrängt
mit rosenroten Knospen besetzt. Auch die eben aufgebrochnen Blumen
sind noch rot, klären sich aber durch ein sanftes Blaurot hindurch all¬
mählich zu jenem prächtigen Himmelsblau ab, wie wir es in dieser Rein¬
heit und Schönheit bei keiner Blume wiederfinden.
Die Blumenkrone ist nur klein und aus einem Stücke. Der flach
ausgebreitete Blumenrand ist in fünf runde Blättchen zerschnitten. Auf
jedes Blättchen, dicht an den Rand der Blumenröhre, legt die Pflanze
wie zum Schmucke je eine kleine, zierliche Goldperle und schiebt dann den
blauen Saphirteller mit einer kurzen, gelben Röhre in den grünen, fünf¬
spitzigen Kelch.