der Hunger ermahnt, damit die Eier nicht ausschlüpfen, so könnt Ihr ein
alter Mann werden," und lächelte dazu. Aber der reiche Fremdling sagte:
„Herr Doktor, Ihr seid ein seiner Kauz, und ich versteh' Euch wohl,"
und ist nachher dem Rat gefolgt und hat 87 Jahre, 4 Monate, 10 Tage
gelebt, wie ein Fisch im Wasser so gesund, und hat alle Neujahr dem
Arzt zwanzig Dublonen Zum Gruß geschickt.
46. Fürs Herzbluten. Von Heinrich Sohnrey.
Jugendbuch für Stadt und Land. 7. Jahrgang. Berlin 1903. S. 121.
Ich saß im Eisenbahnwagen dritter Klasse. „Ratteratt, ratterat,
ratterat!“
Mir gegenüber saß ein stiller, oft tieftraurig vor sich hinblickender
Mann und, innig an ihn geschmiegt, ein etwa vier Jahre altes lieb¬
liches Mägdlein mit großen dunklen Augen, aber blassem, schmerz¬
haftem Antlitz. Der Mann war, wie der Augenschein lehrte, des
kranken Kindes Vater. Er hielt seinen rechten Arm um die Kleine
geschlungen und drückte das von braunem Haar umflossene Köpfchen
von Zeit zu Zeit fest an sich, und wenn er ihr etwas sagte, so
nannte er sie Marie.
In Northeim wurde unsere stille Gesellschaft noch durch drei
Personen vermehrt: Zwei junge Wildlinge und deren Vater.
Frisch und fröhlich sprang der blondhaarige Knabe mit seinem
Schwesterchen herein, und ebenso munter kam der Vater ihnen
nach. Das war ein Lachen, Fragen und Schwatzen ohne Anfang
und ohne Ende. Doch vergaßen sie nicht, uns freundlich zu grüßen.
Wie aus dem Geplauder unserer neuen Reisegenossen hervor¬
ging, fuhren sie zum fernen Mütterchen zurück, das mit großer
Sehnsucht ihrer harrte. Die beiden Kinder freuten sich so sehr
auf das bevorstehende Wiedersehen, daß sie fast aus dem Häuschen
gerieten. Wohl zwanzigmal fragten sie wie aus einem Munde:
„Vater, wie viel Stationen sind’s noch bis zum Mütterchen?“ Und
der Vater wurde nicht müde, die Fragen seiner Lieblinge immer
wieder und wieder zu beantworten.
Plötzlich verstummte die kindliche Redseligkeit, und das ferne
Mütterchen schien für einen Augenblick vergessen. Der Vater hatte
nämlich drei Apfelsinen hervorgeholt und begann nun lächelnd, mit
einem Taschenmesser die duftende Schale von dem saftstrotzenden
Balle zu lösen. Begierig nahmen die Kleinen ein Stück nach dem
Porger-Wolff, Lesebuch für Knaben-Mittelschulcn. III. 4