56. Der arme MuNkant und fein Kollege.
Von M. O. von I)orn.
Die Spiimstube. 3. Jahrgang. Frankfurt a. M. 1848. 8. 137.
Opt einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein großes
•vi Volksfest. Der Prater ist eine sehr große, öffentliche Gartenanlage
voll herrlicher Bäume und ist der Hauptspaziergang und Belustigungsort
der Wiener. Viel Volks strömte hinaus, und jung und alt, vornehm
und gering freute sich dort seines Lebens; auch viele Fremde kamen, die
sich an der Volkslust ergötzten. Wo fröhliche Menschen sind, da hat auch
der etwas zu hoffen, der an die Barmherzigkeit seiner glücklicheren Mit¬
menschen gewiesen ist. So waren denn hier eine Menge Bettler, Orgel¬
männer, Harfenmädchen, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten.
In Wien lebte damals ein Invalide, dem sein kleines Ruhegehalt
zum Unterhalt nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht. Er griff daher
zur Violine, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein Böhme
gewesen war. Er spielte unter einem alten Baum im Prater, und seinen
treuen Pudel hatte er so abgerichtet, daß er vor ihm saß und den alten
Hut im Maule hielt, in den die Leute ihre Pfennige oder Kreuzer
warfen. Heute stand er auch da und fiedelte, und der Pudel saß vor
ihm mit dem Hute wie immer; aber die Leute gingen vorüber, und der
Hut blieb leer. Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie hätten
Barmherzigkeit mit ihm haben müssen. Dünnes weißes Haar deckte kaum
seinen Schädel; ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war sein Kleid.
Gar manche Schlacht hatte er mitgekämpft, und fast jede hatte ihm in
einer Narbe einen Denkzettel angehängt, bei dem für das Verlieren keine
Sorge nötig war. Nur drei Finger an der rechten Hand hielten den
Bogen. Eine Kartätfchenkugel hatte die zwei andern bei Aspern mitge¬
nommen, und fast zu gleicher Zeit nahm ihm eine größere Kugel das
Bein weg. Und doch sahen heute die fröhlichen Leute nicht auf ihn, und
er hatte doch für den letzten Kreuzer Saiten auf seine Violine gekauft und
spielte seine alten Märsche und Tänze mit aller Kraft. Triibe und traurig
sah der alte Mann auf die wogende Menscheninasse, auf die fröhlichen
Gesichter, auf die stolze Pracht ihres Putzes. Bei ihrem Lachen drang
ein Stachel in feine Seele — heute abend mußte er hungern auf seinem
Strohlager im Dachstübchen. Sein Pudel war in der Tat besser daran;
er fand doch vielleicht auf dem Heimweg unter einem Gosfenstein einen
Knochen, an dem er seinen Hunger stillen konnte.
Ächon war's ziemlich spät am Nachmittag, und seine Hoffnung war
so nahe am Untergang wie die Sonne; denn schon kehrten die Lustwandler
Porger-Wolff. Lesebuch für Knaben-Mittelschulen. III. 5