§ 29. Die Theseussage.
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1. Seine Jugendzeit. Theseus gilt als Sohn des Königs Ägeus von
Athen; seine Mutter war die Königstochter Äthra von Trözen (unfern der
Nordküste von Argolis). Als Knabe wurde er bei seinen mütterlichen Gro߬
eltern erzogen. Nachdem er schon in jugendlichem Alter die ersten Proben
seiner Kraft bestanden, machte er sich auf, um über den Isthmus uach Atheu
zu wandern. Dabei vollbrachte der Jüngling sieghafte Kämpfe gegen allerlei
räuberische Unholde.
Er erschlägt den Keulenschwinger Periphetes, den Fichtenbeuger 6 irti§,
der die begegnenden Wanderer an niedergebogenen und wieder emporgeschnellten
Fichten zerriß, ferner den hinterlistigen Sciron, der, auf einem Felsen am Meere
sitzend, die Vorübergehenden zwang, ihm die Füße zu waschen, und sie dabei jäh¬
lings ins Meer zu stoßen pflegte, und den Ausrecker Prokrustes, der die Fremden
in einem zu langen oder zu kurzen Bette zu Tode marterte.
2. Seine ersten Verdienste um Athen. Glücklich nach Athen gelangt,
war Theseus nahe daran, den Nachstellungen seiner Stiefmutter Medea zum
Opfer zu fallen, wurde aber noch zur rechten Zeit von feinem Vater an dem
mitgebrachten Schwerte erkannt. Alsbald machte er sich um Thron und
Vaterland verdient, indem er die Athener von einer harten Zinspflicht gegen
den kretifchen König Minos befreite.
Zu jener Zeit war wieder die neunjährige Frist abgelaufen, zu der die Athener
sieben Knaben und sieben Mädchen als Tribut an den König Minos von Kreta
zu liefern hatten. Die armen Opfer pflegten dem stierköpfigen Minotaurus als
Fraß vorgeworfen zu werden (Erinnerung an den phönicischen Molochkult). Dieses
Untier hauste bei Knofus in einem vielverschlungenen unterirdischen Bau, welcher
deshalb Labyrinth genannt wurde. Theseus gesellte sich freiwillig der trauernden
Schar der jungen Leute bei und geleitete sie an ihren Bestimmungsort. Dort
drang er in die Behausung des Minotaurus ein und erschlug ihn in kühnem
Kampfe. Von dem Faden geleitet, den er auf den Rat der Königstochter Ariadne
beim Eintritt in das Labyrinth von einem Knäuel gewunden, fand er glücklich den
Ausweg wieder. Die Opfer waren gerettet und der Tribut für alle Zeiten gelöst.
Den Heimkehrenden schloß sich auch Ariadne an. In der Vorbeifahrt landete
Theseus auf Naxos. Als ft? wieder unter Segel gingen, fehlte Ariadne. Sie war
schlafend auf der Insel zurückgeblieben und von dem Gotte Dionyfus gefunden
worden, der sie von bannen sührte und zu seiner Gemahlin erhob. Theseus aber
vergaß in seiner Trauer, die schwarzen Segel des Schiffes mit weißen zu ver¬
tauschen, wie er feinem Vater im Falle glücklicher Heimkehr zu thun versprochen
hatte. Darüber stürzte sich Ägeus, der am Felsenstrande ängstlich des rückkehrenden
Schiffes harrte, in das Meer, das angeblich von ihm seinen Namen trägt.
3. Theseus als König von Atlien. Durch den Tod feines Vaters
König geworden, foll Theseus die einzelnen Gemeinden Attikas zum atheni¬
schen Staate vereinigt und demselben eine gesetzliche Ordnung gegeben haben
(womit wohl auch sein Name Theseus d. i. Ordner in Beziehung steht).
In diese Zeit fallen seine Kämpfe gegen die Amazonen und gegen die
Centauren. Neue Unternehmungen, die ihn lange von Athen ferne hielten,
entfremdeten ihn zuletzt seinen Unterthanen.