316
223. Der Rhein.
223. Der Rhein.
D und Reisende haben den Rhein von jeher gepriesen. Das Alpenland
sendet ihm die klaren, immer vollen Fluten; die Berge zieren ihn mit
prächtigen Felsgruppen; die Rebe breitet sich an seinen Ufern aus und hat selbst
die gefährlichsten Stellen erklettert, um ihn mit schönen Weingeländen zu schmücken
und an der milden Sonne köstliche Trauben zu reifen. Hohe, prachtvolle Wal—
nußbãume beschatten die kleinen Ebenen am Strome; alle Arten von Obstbäumen
schütten im Sommer und Herbste ihren reichen Segen in großer Fülle aus und
bezaubern im Frühjahre durch unvergleichliche Blütenpracht. Auch der Mensch
hat fast zwei Jahrtausende daran gearbeitet, die Ufer mit Städten und Felsen—
schlössern, mächtigen Festen und herrlichen Kirchen, mit Klöstern und Landhäusern
zu zieren. Mit Recht kann der Rhein stolz seine Wellen rauschen und wogen
lassen. An seinen Ufern hat Jung Siegfried die Drachen und Lindwürmer er—
schlagen, hat Roland gekämpft und der große Karl Gericht gehalten. Hier saßen
die Pfalzgrafen vom Rhein, und die stolze Ritterschaft hielt glänzende Turniere.
Burg um Burg begleiten auf den Höhen zu beiden Seiten seinen Lauf. Einige
schauen noch trotzig hinab ins Tal; sie haben Jahrhunderte hindurch vor keinem
Sturme gezagt; andere mit ihren Zinnen, die einst kühn emporstrebten, sind zu
Grabe getragen; nur alterndes Gemäuer ist stehen geblieben, und der blaue
Himmel schaut durch die offenen Fenster.
Auf dem Flusse aber ist ein neues Leben erblüht. Hoch in die Lüfte
wälzen sich aus dem Tale herauf Dampfwolken; stolz fahren die Dampfschiffe
zu Berg und zu Tal; von dem Ufer stößt Nachen um Nachen ab mit Reisenden
bei jedem Dorfe, bei jeder Stadt; sie steuern den Dampfschiffen zu, und die
Reisenden ersteigen die schnaubenden Rosse, die sich sogleich wieder in Bewegung
setzen. Mit Jubel und Gruß gleitet ein Schiff an dem anderen vorbei. Keuchend
wälzen sich die Schleppschiffe fort; große, schwerbeladene Kähne folgen ihnen.
Bald werden sie überholt von den rascheren Reiseschiffen. Auf kleinen Gondeln
fahren Frauen und Mädchen zu Markte; sie wissen das Ruder ebenso geschickt
zu führen, wie den breiten Korb mit Gemüse und Milch auf dem Kopfe zu
tragen. Auf mächtigen Flößen fahren kräftige Männer den Strom hinab, als
wollten sie die einfachste Weise der Schiffahrt wieder herstellen. Eine ganze
Reihe von Bretterzellen haben sie auf dem Flosse aufgeschlagen, das sie Tag
und Nacht nicht verlassen. Vom Aufgange der Sonne bis zu ihrem Untergange
ist es lebendig auf dem Strome. Wenn der Tag graut und der Morgennebel
sich vom Flusse erhebt, ertönt schon die Schiffsglocke in die Talschluchten hinein,
eilig kommen die Säumigen gelaufen, um die Abfahrt nicht zu verfehlen; und