214. Die Sonnenfinsternis.
1. Es geschah an einem Hochsommertage, daß mein Vater an!
den Dachboden stieg, um aus alten Fensterrahmen Gläser zu brechen,
und mit Staunen sah ich, nachdem diese sorgfältig gereinigt waren,
wie man sie mit Rauch berußte. „Ihr habt sie eben gereinigt, und
nun beschmutzt ihr sie wieder?“ „Warte nur, mein Sohn, du wirst
schon sehn, wozu das nötig ist.“ Und der Stallknecht Gustav sagte
mir: „Heute ist eine totale Sonnenfinsternis. Gib acht, daß du nicht
.erschrickst. Wenn es dunkel um uns her wird, schaue du in dein
Regenfaß, da wirst du die Sonne verschwinden und bald wiederkehren
sehen.“ — „Gehn wir nicht zu Bett, wenn sie verschwindet?“ —
„Wir dürfen aufbleiben; denn sie kommt bald wieder, und wenn sie
wiederkommt, kommt auch gleich wieder der Tag, der vorher war,
und schreibt sich mit demselben Datum.“
2. Ich verstand nicht viel von dem, was gesagt wurde. Es
kam mir verworren vor. Den andern Tag aber sah ich mit eignen
Augen im Spiegel meines Wasserfasses das Tagesgestirn plötzlich ver¬
gehn und wiedergeboren werden.
War dies ganz schwarze, unheimliche Ding, das langsam vor¬
rückend die helle Sonne auffraß, wirklich der Mond? Dann war es
jedenfalls ein ganz andrer als der freundliche, lichte, den ich wohl
einmal an einem Winterabend die Welt in Silberflor hatte hüllen sehen.
Aber die Sonne selbst, die war eine völlig andre, oder vielmehr es war
so, als ob sie überhaupt nicht mehr wäre; denn als das schwarze Un¬
geheuer sich so weit in die glühende Scheibe hineingefressen hatte,
daß der Rest davon Sichelform anzunehmen begann, wurde die Luft
plötzlich kühl, es erhob sich ein Wind wie am Abend, mich fröstelte.
Später erzählte man, der Rasen habe sich in diesen Sekunden betaut,
und es seien dunkle Wolken wie bei Gewittern mit blutroten Rändern
plötzlich gegen den Himmel heraufgewachsen. Ich erinnere mich nicht,
jemals wieder so rasch Abendwerden gesehen zu haben; völlig ohne
Dämmerung und Abendglühn war der Tag dahin, und eine fahle, bleierne
Nacht lag auf uns. In diesem Augenblicke, wo die Sonnenfinsternis
vollständig war, schaute ich wie alle andern, die ihre geschwärzten
Gläser beiseite taten, in die Sonne und sah nichts als eine schwarze
Scheibe, über deren Ränder Feuertropfen zu quellen schienen. Von
der zuerst dunkel gewordnen Seite der Scheibe waren die Feuer-
tropfen in kurzem zu einem dünnen Lichtband zusammengeflossen,
und schon glühte dieses so hell, daß man die Gläser wieder vornahm.
3. Ich schaute eifrig in mein Wasser hinein, da umschlangen mich
die lieben Arme meiner Mutter von rückwärts, und ein tränenüb er-