Full text: [Teil 1 = 2. u. 3. Schulj] (Teil 1 = 2. u. 3. Schulj)

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226. Schneeweißchen und Rosenrot. 
1. Eine arme Witwe lebte einsam in einem Hüttchen. Vor dem 
Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug 
das eine weiße, das andre rote Rosen. Sie hatte zwei Kinder, die 
glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, 
das andre Rosenrot. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam 
und unverdrossen, wie je zwei Kinder ans der Welt gewesen sind. Schnee¬ 
weißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang 
lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommer¬ 
vögel. Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im 
Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder 
hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen faßten, so oft 
sie zusammen ausgingen, und wenn Schneeweißchen sagte: „Wir wollen 
uns nicht verlassen", so antwortete Rosenrot: „Solange wir leben, nicht", 
und die Mutter setzte hinzu: „Was das eine hat, soll's mit dem andern 
teilen." Oft liefen sie im Wald allein umher und sammelten rote 
Beeren; aber kein Tier tat ihnen etwas zuleide, sondern sie kamen ver¬ 
traulich herbei. Das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen, das 
Reh graste an ihrer Seite, der Hirsch sprang ganz lustig vorbei, und die 
Vögel blieben auf den Ästen sitzen und sangen, was sie nur wußten. 
Kein Unfall traf die Kinder. Wenn sie sich im Walde verspätet hatten und 
die Nacht sie überfiel, so legten sie sich nebeneinander auf das Moos und 
schliefen, bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das und hatte 
ihretwegen keine Sorge. Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten 
und das Morgenrot sie aufweckte, da sahen sie ein schönes Kind in einem 
weißen, glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf 
und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts und ging in den 
Wald hinein. Und als sie sich umsahen, hatten sie ganz nahe bei einem 
Abgrunde geschlafen und wären gewiß hineingefallen, wenn sie in der 
Dunkelheit noch ein paar Schritte weitergegangen wären. Die Mutter 
aber sagte ihnen, das müßte der Engel gewesen sein, der gute Kinder 
bewacht. 
2. Schneeweißchen und Rosenrot hielten das Hüttchen der Mutter 
so rein, daß es eine Freude war hineinzuschauen. Im Sommer besorgte 
Rosenrot das Haus und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe sie aufwachte, 
einen Blumenstrauß vors Bett, darin war von jedem Bäumchen eine Rose.
	        
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