Full text: (Viertes und fünftes Schuljahr) (Teil 2 für Kl. 6 u. 5)

nur geschickt dazu gewesen wären. Die Gicht hatte nämlich ihren 
Körper befallen, und das ist ein schlimmer Gast. Der gehorchten 
Arme und Hände mehr als ihrem Willen, und des Doktors 
Medikamente wollten ihr auch nicht helfen. Betteln mochte die Frau 
aber nicht; denn sie war ein ehrbar Weib und ehrsamer Leute Kind. 
Die erfinderische Mutterliebe aber ersinnt allerhand Mittel und Wege, 
hier und da ein Bröslein heimzubringen, gerade so wie’s das 
Schwälblein tut zur Zeit der Teuerung, und wär's auch nur, die 
darbende Brut vorm Verhungern zu wahren. Und es gelang ihr 
auch, dem Schicksal einen Notpfennig abzuringen, und ihre braven 
Kinder halfen ihr dabei. 
So war sie auch eines Tages mit den drei ältesten in den 
Wald gegangen, Maiblumen zu pflücken. Vornehme Leute kauften 
solch ein duftig Sträublein ja gern, und mancher, dem die Nächsten¬ 
liebe den Blick schärft und Barmherzigkeit die Hand regiert, tat 
noch ein Übriges. Es war schon spät am Mittag, als ihr Körbchen 
gefüllt war, und sie setzte sich mit ihrer duftigen Ware an dem 
Wege nieder, der zum Schloß Wilhelmshöhe hinaufführt. Da saß sie 
nun und harrte; aber man ging achtlos an ihr vorüber. Die Sonne 
ging zur Rüste, und sie hatte kaum ein Sträußlein verkauft. Traurig 
blickte sie der scheidenden Sonne nach. Und schon schickte sie sich 
an, mit ihren hungernden Kindern heimwärts zu gehen, als zwei 
junge Herren gerade auf sie zukamen. Von neuem belebte sich ihre 
Hoffnung. Und welche Freude, als der eine von ihnen sich einige 
der duftenden Sträußchen auswählte! Doch wie enttäuscht war sie, 
als sie das Geldstück betrachtete, das er ihr dafür gab. Ein Zwei¬ 
pfennigstück! Nein, das war doch gar zu wenig. Schier unwillig 
ging sie davon; doch kam kein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen. 
Der Herr bemerkte ihre Unzufriedenheit. Und er wandte sich zu 
seinem Begleiter und sagte: ,,Ich fürchte, ich habe der Frau zu 
wenig gegeben." „Ja, ich begreife auch nicht, was die Frau will," 
erwiderte dieser; „ich will doch einmal fragen, was sie eigentlich 
denkt." „Ach, lieber Herr," sagte sie unter Schluchzen, „zwei 
Pfennige ist doch etwas wenig. Wovon sollen ich und meine 
hungernden Kinder denn leben?" Als ihr nun klar gemacht wurde, 
daß das Geldstück kein Kupfer, sondern Gold sei, da war sie 
überglücklich, und Tränen des Dankes rollten ihr die abgehärmten 
Wangen herab.
	        
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