Full text: Haus und Heimat I (Bd. 2 (3. Schulj.))

Der Storch wiegte den Hals bedenklich hin und her. „Das wird 
ein schweres Stück Arbeit," meinte er. 
„Es muß sein," sprach der alte Mann. „Hast du nicht schon oft 
Zwillinge und sogar Drillinge in deinem Schnabel getragen? Frisch ans 
Werk, oder wir sind am längsten Freunde gewesen." 
„Ja, wenn Ihr befehlt, so muß ich gehorchen," entgegnete der 
Storch unterwürfig und faßte das Kind mit dem Schnabel am Gürtel. 
„Aber mein Kettlein, mein Schleier und meine Haube," mahnte 
Trudchen in klagendem Ton. 
„Die sollen meine Raben den bösen Tieren wieder abnehmen und dir 
nachbringen," tröstete der Alte. „Meister Storch, mach'deine Sache gut!" 
Der Mann nickte Trudchen freundlich zu, und im nächsten Augen¬ 
blick fühlte sie sich emporgehoben, und der Storch trug sie durch die Luft. 
Hei, das ging schnell wie der Wind! Trudchen schaute in die 
Tiefe, da lag der Wald unter ihr wie ein Gartenbeet mit krauser 
Petersilie. Dann verging ihr Hören und Sehen. 
Als Trudchen wieder zum Bewußtsein erwachte und die Augen 
aufschlug, lag sie im Gras des Schloßgartens, und Frau Ursula stand 
vor ihr und sprach scheltend: „Kind, Kind, hier im feuchten Gras zu 
liegen und einzuschlafen! Wenn du nun den Schnupfen kriegst, so 
heißt's wieder: die alte Ursula gibt auch gar nicht acht auf das Kind — 
und ich habe doch kein Auge von dir gewendet. Und da liegt das schöne, 
goldene Halskettlein mitten auf dem Weg, und dort liegt die Haube, 
und an der Rosenhecke hängt der Schleier. Steh auf und komm mit 
mir ins Haus; es wird kühl im Garten. Ei, du lieber Himmel, was 
machst du mir für Sorgen!" 
Und Trudchen stand auf und ließ sich ausschelten und tat keinen 
Mucks. — 
Ein Glück, daß Frau Ursula nicht alles wußte, was sich zugetragen. 
Das hätte eine schöne Geschichte gegeben! 
71. Ainderlied von den grünen Sommervögeln. 
von Friedrich Rückert. 
1. Es kamen grüne vögelein 
geflogen her vom Fimmel 
und setzten sich im Sonnenschein, 
in fröhlichem Gewimmel,
	        
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