Full text: (Sechstes und siebentes Schuljahr) (Teil 3 für Kl. 4 u. 3)

offen, aber — fangen die Schranken nicht schon an, sich zu senken? 
Nein! Aber in Sekunden sinken sie hernieder! Fast wie im Sprung 
überfliegt der D-Zug die Kreuzungsstelle. Hinter dem letzten Wagen, 
ihn fast noch streifend, schlagen die Gitterbäume nieder und nur 
um weniges später schwankt der andere Zug über dieselbe Stelle. 
„Gerade noch durchgekommen!“ frohlockt der Heizer, doch das 
Gesicht des Führers behält seinen stetigen, ernsten Ausdruck und 
schaut gerade voraus. 
Endlich erreicht der Zug sein Ziel. Froh, daß die lange Fahrt 
vorbei ist, klettern die Fahrgäste aus den Wagen und zerstreuen 
sich nach allen Richtungen. Auch der Lokomotivführer kann jetzt 
seinen Stand, seinen verantwortungsvollen Posten verlassen, aber 
das Bedürfnis nach Erholung und Zerstreuung lockt den Ermüdeten 
noch zu einigen Stunden heiteren Verweilens unter Kameraden. 
Ist schon zur guten Jahreszeit der Dienst des Lokomotivführers 
ein schwerer und nervenangreifender, so steigern sich die Strapazen 
im Winter, wenn Sturm und Schneegestöber, vereint mit raben¬ 
finsterer Nacht, jede Beobachtung der Strecke fast zur Unmöglichkeit 
machen; wenn hohe Schneewehen gleich riesigen Dämmen sich auf 
dem Gleis gelagert haben und die Weiterfahrt hindern; wenn Glatteis 
den Zug an der Entfaltung seiner vorgeschriebenen Schnelligkeit 
hindert und starrer Frost das rollende Material spröde macht, daß 
es springt wie Glas. Wenn der Sturm die Telegraphenstangen umlegt 
und auf den Bahnkörper wirft oder im Forst Zweige und Äste oder 
ganze Stämme hinschleudert, daß sie wie eine Barrikade den Weg 
versperren! Was unter solchen Verhältnissen an Mut, zäher Aus¬ 
dauer, Energie und peinlichster Gewissenhaftigkeit geleistet wird 
von den Männern, die, ganz auf sich allein angewiesen, vorn auf der 
Lokomotive stehen, könnte Bände füllen! Doch niemand schreibt sie. 
Und keiner der Reisenden, die glücklich und unbeschädigt ihr 
Ziel erreicht haben, denkt beim Verlassen des Wagens auch nur 
noch mit einem Gedanken an den Mann, in dessen Hand so lange 
Stunden ihr Leben ruhte, der sie in treuer Pflichterfüllung sicher 
führte durch Sturm und Wetter und Graus! Er selber aber macht 
sicher kein Aufhebens davon, sondern wandert nach Haus, froh, 
daß das schwere Werk gelang. Die innere Zufriedenheit ist stets 
sein schönster Lohn!
	        
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