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dem Vorderteil dem Nestrand zugewandt, mauert sie in einer
Wölbung nach oben. Ein Lehmklümpchen nach dem andern häuft
sie an, und oft sehen wir sie Stroh und Halme mit in die Erd¬
klümpchen vermengen, um dem Mauerwerk einen besseren Halt zu
5 geben. Sie paßt ihr Nest ganz gut der Umgebung an. Zumeist
erhält es die Gestalt einer Halbkugel. In acht bis zehn Tagen ist
das Mauerwerk vollendet, und nun verklebt die Schwalbe die rauhe
Innenseite mit Strohstückchen und Grashalmen, Federn und Wolle.
Müller, Tiere der Heimat.
183« Ter Kanarienvogel
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er angenehmste und beliebteste Stubenvogel ist der Kanarienvogel.
AJ In den Häusern der Reichen wie in den Hütten der Armen sieht
man ihn gern. Durch seinen zierlichen, schlanken Körperbau und sein
leuchtendes, gelbes Gefieder erfreut er unser Auge, und durch seinen herr-
15 lichen Gesang belebt er die Einsamkeit unsrer Wohnung. Munter hupst
er im Käfig umher, blickt mit seinen klugen, kleinen Augen nach allen
Seiten und läßt sein Lied erschallen, das oft ganz leise, oft laut und
schmetternd erklingt. Besonders freuen sich die Kinder über den kleinen
Hausgenossen. Sie wissen, wie wenig dazu gehört, ihn glücklich zu
20 machen. Sie geben ihm Rübsamen und Hanfsamen. Wenn sie im
Frühling und Sommer ausgehen, bringen sie ihm etwas Kreuzkraut,
Vogelmiere oder Brunnenkresse mit heim. Am Sonntag stecken sie ihm
ein Zuckerstückchen oder einen andern Leckerbissen zu. Wie fröhlich sind
sie, wenn er das munter mit seinem kräftigen Schnabel packt und zer-
25 knuspert! Wie gern holen sie ihm Trinkwasser oder stellen ihm eine
Schale mit frischem Wasser in den Käfig und sehen zu, wenn er sich
darin badet! „Unser Kanarienvogel ist aber auch gar zu lieb und schön,"
hört man sie sprechen. „Selbst abends, wenn wir bei der Lampe sitzen,
singt er uns noch ein Lied vor, ehe er das Köpfchen unter den Flügel
30 steckt und auf seinem Stäbchen einschläft." Sie bestreuen den Boden des
Käfigs mit trockenem Sande, damit sich der Vogel paddeln kann. Vor
allen Dingen behüten sie das Tierchen vor Zugluft; denn sie haben
gehört, daß es leicht heiser und so für den Gesang untauglich wird.
Der Kanarienvogel ist, wie alle feine Brüder, in der Stube geboren
35 und groß geworden. Hier bleibt er die zwölf bis fünfzehn Jahre seines
Lebens, und hier fingt er bis zu feinem Tode. Seine nächsten Ver¬
wandten unter den Singvögeln, wie der bunte Stieglitz oder Distelfink,
der Buchfink mit dem bläulichen Scheitel, der blutrote Hänfling und der
Vetter Graurock, der freche und zudringliche Sperling, die leben alle
40 draußen in Flur und Wald. Der Kanarienvogel hat keine Sehnsucht
nach dem grünen Walde; denn er hat ihn nie gesehen. Wollte man ihm
die Freiheit schenken, so würde ihm das nur verderblich sein. Die rauhe