Full text: Neuntes Schuljahr (B)

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2. Meine Kindheit. 
1. Mein Vater war im Hause sehr ernster Natur, außer demselben 
munter und gesprächig, man rühmte an ihm die Gabe, Märchen zu erzählen, 
es vergingen aber viele Jahre, ehe wir sie mit eignen Ohren kennen lernten. 
Er konnte es nicht leiden, wenn wir lachten und uns überhaupt hören 
ließen; dagegen sang er an den langen Winterabenden, in der Dämmerung, 
gern Choräle, auch wohl weltliche Lieder, und liebte es, wenn wir mit ein¬ 
stimmten. Meine Mutter war äußerst gutherzig und etwas heftig; aus ihren 
blauen Augen leuchtete die rührendste Milde, wenn sie sich leidenschaftlich 
aufgeregt hatte, fing sie zu weinen an. Ich war ihr Liebling, mein zwei 
Jahre jüngerer Bruder der Liebling meines Vaters. Der Grund war, weil 
ich meiner Mutter glich und mein Bruder meinem Vater zu gleichen schien, 
denn es war, wie sich später zeigte, keineswegs der Fall. Meine Eltern 
lebten in bestem Frieden miteinander, solange sich Brot im Hause befand; 
wenn es mangelte, was im Sommer selten, im Winter, wo es an Arbeit 
fehlte, öfter vorkam, ergaben sich zuweilen ängstliche Szenen. Ich kann 
mich der Zeit nicht erinnern, wo mir diese, obgleich sie nie ausarteten, 
nicht fürchterlicher als alles gewesen wären, und eben darum darf ich sie 
nicht mit Stillschweigen übergehen. Eines Auftritts andrer Art erinnere 
ich mich aus meiner frühsten Kindheit; es ist der erste, dessen ich gedenke, 
er mag in mein drittes Jahr fallen, wenn nicht noch ins zweite. Ich darf 
ihn erzählen, ohne mich an dem mir heiligen Andenken meiner Eltern zu 
versündigen; denn wer in ihm etwas Besondres sieht, der kennt die untern 
Stände nicht. Mein Vater wurde, wenn er seinem Handwerk nachging, 
meistens bei den Leuten, bei denen er arbeitete, beköstigt. Dann aßen wir 
zu Hause, wie alle Familien, um die gewöhnliche Zeit zu Mittag. Mitunter 
mußte er sich gegen eine Entschädigung im Tagelohne selbst die Kost 
halten. Dann wurde das Mittagessen verschoben und zur Abwehr des 
Hungers um zwölf Uhr nur ein einfaches Butterbrot genossen. Es war in 
dem kleinen Haushalt, der keine doppelte Hauptmahlzeit vertrug, eine billige 
Einrichtung. An einem solchen Tage buk meine Mutter Pfannkuchen, 
sicherlich mehr, um uns Kinder zu erfreuen, als um ein eignes Gelüst zu 
stillen. Wir verzehrten sie mit dem größten Appetit und versprachen, dem 
Vater am Abend nichts davon zu sagen. Als er kam, waren wir bereits 
zu Bett gebracht und lagen im tiefsten Schlaf. Ob er gewohnt sein mochte, 
uns noch auf den Beinen zu finden, und aus dem Gegenteil den Verdacht 
schöpfte, daß gegen die Hausordnung gefehlt worden sei, weiß ich nicht; 
genug, er weckte mich aus, liebkoste mich, nahm mich auf den Arm und 
fragte mich, was ich gegessen habe. Pfannkuchen! erwiderte ich schlaf¬ 
trunken. Hierauf hielt er es der Mutier vor, die nichts zu entgegnen hatte 
und ihm fein Essen auftrug, mir aber einen unheilverkündenden Blick zu-
	        
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