Full text: Siebentes und achtes Schuljahr (A)

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Bald mahnt die eine, bald die andere zum Gebet und Kirchgang. Ihr Ton 
ist dem Bürger herzlich lieb, er umklingt ihm das ganze Leben, wie er seinen 
Vorfahren getan. Wenn der Heimkehrende den Glockenklang seiner ge¬ 
liebten Stadt auf dem Felde hört, dann hält er still und betet. Darum 
ehrt der Deutsche seine Glocken wie lebende Wesen, er gab ihnen Frauen¬ 
namen, den großen am liebsten Anna, Susanna, und er war geneigt, 
ihnen ein geheimnisvolles Leben anzudichten; denn sie läuten noch in 
versunkener Stadt, tief unter der Erde oder im Wasser. Ja, sie steigen 
dann zuweilen aus der Tiefe heraus bis an das Sonnenlicht. Allmäh¬ 
lich werden Turmuhren eingeführt. Bis zu ihnen hat nur das Geläute 
die neun Tageszeiten der Kirche gemeldet und daneben das Horn oder 
die Trompete der Türmer. Die Sonnenuhr und vielleicht eine große Sand¬ 
uhr am Rathause haben den Verlaus der Stunden von 1 bis 24 gewiesen, 
in die nach römischem Brauch Tag und Nacht geteilt ward. 
8. Die Stadt hat ihren Markttag; am Rathause ist die rote Fahne aus¬ 
gesteckt; solange sie hängt, haben die fremden Verkäufer das Marktrecht. Zu 
allen Toren ziehen die Landleute der Umgegend herein, auch die Landbäcker 
und Metzger, welche heute an besonderen Plätzen feil halten dürfen. Auf 
Ständen, Tischen, in Krambuden und den Stadtbänken sind die Waren 
ausgelegt; das kleine Handwerk der Stadt zeigt heute im Gewühl der 
Fremden und Einheimischen, was der Fleiß des Bürgers in der Woche ge¬ 
schaffen hat. Jeder ältere Handwerksmann wußte damals, daß sein Hand¬ 
werk seit Menschengedenken große Veränderungen erfahren hatte. Überall 
größere Kunst und Reichlichkeit des Lebens, neue Handwerke waren ent¬ 
standen, unaufhörlich änderte die Mode. Die Riemer, Sattler und Beutler 
hatten sich getrennt, und die Beutler verfertigten Handschuhe und zierliche 
Ledertaschen für die Frauen und parfümierten sie mit Ambra. Die Glaser, 
sonst geringe Werkleute, waren hoch heraufgekommen, sie verstanden durch¬ 
sichtiges Glas in den schönsten Farben zu verfertigen; sie setzten diese 
Farben kunstvoll in Blei zu Bildern zusammen, malten Gesichter und 
Haare, schattierten die Gewänder mit dunkler Farbe und schliffen helle 
Stellen aus. Die Schneider, eine sehr wichtige und ansehnliche Innung, 
waren zumeist durch die Mode geplagt; schon damals war Klage, daß ein 
Meister, der im vorigen Jahre noch zur Zufriedenheit gearbeitet hatte, 
jetzt gar nichts mehr galt, weil er die Kunst der neumodischen, gerissenen und 
geschlitzten Kleider nicht verstand. Sogar die Schuster waren sehr kunst¬ 
reich geworden; ihr Handwerk war schwierig, sie hatten Schnabelschuhe zu 
nähen von buntem Leder, deren Spitzen sich zuerst etwas in die Höhe er¬ 
hoben und dann wie der Kamm eines Truthahns hinabhingen. Es war 
Rittertracht; der Rat wollte für die Bürger nur geringe Länge der Schnäbel 
zulassen; aber das war vergeblich, die Zierlichkeit war nicht aufzuhalten. 
9. An dem Stadttor ist Aufenthalt und Gedränge; denn jeder Wagen,
	        
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