95
Bald mahnt die eine, bald die andere zum Gebet und Kirchgang. Ihr Ton
ist dem Bürger herzlich lieb, er umklingt ihm das ganze Leben, wie er seinen
Vorfahren getan. Wenn der Heimkehrende den Glockenklang seiner ge¬
liebten Stadt auf dem Felde hört, dann hält er still und betet. Darum
ehrt der Deutsche seine Glocken wie lebende Wesen, er gab ihnen Frauen¬
namen, den großen am liebsten Anna, Susanna, und er war geneigt,
ihnen ein geheimnisvolles Leben anzudichten; denn sie läuten noch in
versunkener Stadt, tief unter der Erde oder im Wasser. Ja, sie steigen
dann zuweilen aus der Tiefe heraus bis an das Sonnenlicht. Allmäh¬
lich werden Turmuhren eingeführt. Bis zu ihnen hat nur das Geläute
die neun Tageszeiten der Kirche gemeldet und daneben das Horn oder
die Trompete der Türmer. Die Sonnenuhr und vielleicht eine große Sand¬
uhr am Rathause haben den Verlaus der Stunden von 1 bis 24 gewiesen,
in die nach römischem Brauch Tag und Nacht geteilt ward.
8. Die Stadt hat ihren Markttag; am Rathause ist die rote Fahne aus¬
gesteckt; solange sie hängt, haben die fremden Verkäufer das Marktrecht. Zu
allen Toren ziehen die Landleute der Umgegend herein, auch die Landbäcker
und Metzger, welche heute an besonderen Plätzen feil halten dürfen. Auf
Ständen, Tischen, in Krambuden und den Stadtbänken sind die Waren
ausgelegt; das kleine Handwerk der Stadt zeigt heute im Gewühl der
Fremden und Einheimischen, was der Fleiß des Bürgers in der Woche ge¬
schaffen hat. Jeder ältere Handwerksmann wußte damals, daß sein Hand¬
werk seit Menschengedenken große Veränderungen erfahren hatte. Überall
größere Kunst und Reichlichkeit des Lebens, neue Handwerke waren ent¬
standen, unaufhörlich änderte die Mode. Die Riemer, Sattler und Beutler
hatten sich getrennt, und die Beutler verfertigten Handschuhe und zierliche
Ledertaschen für die Frauen und parfümierten sie mit Ambra. Die Glaser,
sonst geringe Werkleute, waren hoch heraufgekommen, sie verstanden durch¬
sichtiges Glas in den schönsten Farben zu verfertigen; sie setzten diese
Farben kunstvoll in Blei zu Bildern zusammen, malten Gesichter und
Haare, schattierten die Gewänder mit dunkler Farbe und schliffen helle
Stellen aus. Die Schneider, eine sehr wichtige und ansehnliche Innung,
waren zumeist durch die Mode geplagt; schon damals war Klage, daß ein
Meister, der im vorigen Jahre noch zur Zufriedenheit gearbeitet hatte,
jetzt gar nichts mehr galt, weil er die Kunst der neumodischen, gerissenen und
geschlitzten Kleider nicht verstand. Sogar die Schuster waren sehr kunst¬
reich geworden; ihr Handwerk war schwierig, sie hatten Schnabelschuhe zu
nähen von buntem Leder, deren Spitzen sich zuerst etwas in die Höhe er¬
hoben und dann wie der Kamm eines Truthahns hinabhingen. Es war
Rittertracht; der Rat wollte für die Bürger nur geringe Länge der Schnäbel
zulassen; aber das war vergeblich, die Zierlichkeit war nicht aufzuhalten.
9. An dem Stadttor ist Aufenthalt und Gedränge; denn jeder Wagen,