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aber das alte, schwarze Kästchen auf dem Tische überstrahlte sie doch.
Sein Inhalt sprach lauter von der Köstlichkeit der Elternliebe, als wenn
ihr Preis unter dem Schalle von tausend Trompeten auf allen Märkten
der Welt verkündet worden wäre. Das Schloß sprang auf, und der
Deckel schlug zurück. Geld enthielt der Kasten, viel, viel Geld, silberne
Münzen von aller Art und sogar ein Goldstück, eingewickelt in Seiden¬
papier. Reiche Leute hätten mit Recht über den Schatz lächeln können;
aber wenn sie jeden Taler und Gulden nach dem wahren Werte hätten
bezahlen sollen, so würde vielleicht all ihr Reichtum nicht genügt haben,
den Inhalt des schwarzen Kastens auszukaufen. Mit Schweiß und Hunger
war jede Münze gewonnen, und tausend edle Gedanken und Träume hin¬
gen daran. Tausend Hoffnungen lagen in dem dunkeln Kästchen; sein
edelstes Selbst hatte der Meister Anton darin verborgen, und all ihre
Liebe und Treue hatte Christine Unwirsch hinzugelegt.
Wer sah das dem ärmlichen Häuflein abgegriffener Geldstücke an?
Ein kleines Buch, bestehend aus wenigen zusammengehefteten Bogen
grauen Konzeptpapiers, lag neben dem Gelde. Des Vaters Hand hatte
die ersten Seiten mit Buchstaben und Zahlen gefüllt, dann aber hatte
der Tod den Schlußstrich unter des wackern Meisters Anton Rechnung
gezogen, und nun hatte bereits durch lange Jahre die Mutter Buch ge¬
halten auf Treue und Glauben, ohne Buchstaben und Ziffern, und die
Rechnung stimmte immer noch.
5. Wie oft hatte sich die Frau Christine Unwirsch hungrig zu Bette
gelegt, wie oft hatte sie allen möglichen Mangel erduldet, ohne der Ver¬
suchung, die Hand nach dem schwarzen Kästchen auszustrecken, zu unterliegen!
In jeder Gestalt war die Not an sie herangetreten in ihrer kümmerlichen
Witwenschaft; aber heldenhaft hatte sie Widerstand geleistet. Auch ohne
Schriftzeichen und ohne Zahlenzeichen konnte sie in jedem Augenblicke Rechen¬
schaft ablegen; sie trug keine Schuld, wenn aus dem schwarzen Kästchen
nicht die glückliche, ehrenvolle Zukunft emporstieg, welche der Tote für
seinen Sohn erträumte.
Länger als eine Stunde saß die Frau Christine in dieser Nacht vor
dem Tische, zählte an den Fingern und rechnete.
Die Witwe teilte ihren kümmerlichen Tagelohn in zwei Teile. Der
größere fiel in das Kästchen von Eichenholz zu den andern Ersparnissen so
langer, mühevoller Jahre, und einen hellen Klang gaben die schlechten
Münzen.
Aus der Kammer der Witwe war der Mondschein gänzlich wieder
verschwunden, als die Mutter fröstelnd zurückschlich aus der Stube. Noch
immer schlief Hans Unwirsch fest und erwachte auch nicht von dem Kusse,
welchen die Mutier auf seine Stirn drückte. Auch die Lampe erlosch, und
die Frau Christine schlief bald so sanft wie ihr Kind. Um das Bett
Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. Teil IIIA. 1912. 2