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10. Der Geist des Salomo. 
Ein ehrlicher Greis trug des Tages Last und Hitze, sein Feld mit 
eigner Hand zu pflügen und mit eigner Hand den reinen Samen in den 
lockern Schoß der willigen Erde zu streuen. 
Auf einmal stand unter dem breiten Schatten einer Linde eine gött¬ 
liche Erscheinung vor ihm da. Der Greis stutzte. 
„Ich bin Salomo," sagte mit vertraulicher Stimme die Erschei¬ 
nung; „was machst du hier, Alter?" 
„Wenn du Salomo bist," versetzte der Alte, „wie kannst du fragen? 
Du schicktest mich in meiner Jugend zu der Ameise; ich sah ihren Wandel 
und lernte von ihr fleißig sein und sammeln. Was ich da lernte, das 
tu' ich noch." — 
„Du hast deine Lektion nur halb gelernt," versetzte der Geist; „geh 
noch einmal hin zur Ameise, und lerne nun auch von ihr in dem Winter 
deiner Jahre ruhen und des Gesammelten genießen!" 
Gotthold Ephr. Lessing. 
11. Mein Sparkassenbuch. 
(Gekürzt.) 
1. Es ist ein altes, graugrünes Büchlein, das auf länger als ein 
Menschenalter zurückblicken kann. Die fleißige Hand, die den ersten Taler 
darin gebucht hat, ist längst kalt geworden, und die treuen Hände, die 
dem Knaben das Büchlein überreichten, sind gleichfalls erstarrt. Aber 
der altväterische Spruch, mit dem es dem Knaben eingehändigt wurde, 
geht noch durch sein Gedächtnis. Er lautete: 
Sei klug und stolz in deiner straft 
und leg vom Lohn, den sie dir schafft, 
— leicht kannst du's — stets etwas zurück 
für deiner Zukunft sichres Glück. 
Wer sich gewöhnt, stets vorzusorgen, 
der bleibt bewahrt vor Schuld und Borgen. 
Es währte eine geraume Weile, bis sich zu den ersten geschenkten 
Talern das erste selbsterworbene Markstück fand. Aber als es eingezahlt 
wurde — es war nach der Gründung des neuen Deutschen Reiches und 
Einführung des schönen neuen Geldes — ließen sich die umgerechneten 
Taler mit dem neuen Markstück als ganz stattliche Ziffer an. Von 
Zinsen war noch nicht viel die Rede, dazu war die Kapitalsumme zu 
unbedeutend, aber das langsame Wachsen von Mark zu Mark, von zehn 
auf zwanzig, von zwanzig auf fünfzig, erfüllte doch mit wahrhafter Freude. 
Und als die ersten hundert Mark voll waren, wie dünkte sich der In-
	        
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