258. Wie die Schildhiirger Licht ins Rathaus bringen. 
Die Schildbürger hatten ein Rathaus gebaut, aber dabei 
die Fenster vergessen. Als sie es nun einweihen wollten, siehe, 
da war es ganz finster, so daß einer den andern nicht sehen 
konnte. Die Ursache blieb ihnen aber unbekannt, so sehr sie 
auch ihre Köpfe darüber zerbrachen; endlich beschlossen sie, 
zur Ergründung der Sache einen großen Ratstag zu halten. 
Als der festgesetzte Ratstag gekommen, stellten sich die Schild¬ 
bürger allesamt ein, zündeten ein jeder einen Lichtspan an, 
damit sie in dem finsteren Rathaus einander sehen könnten, 
und ließen dann ihre Meinungen vernehmen. Die Mehrheit 
schien sich dahin zu neigen, daß man den ganzen Bau wieder 
bis auf den Boden abbrechen und aufs neue aufführen sollte. 
Da trat einer unter ihnen hervor, der stets der allerweiseste 
gewesen, und sprach: „Wer weiß, ob das Licht oder der Tag 
sich nicht in einem Sacke tragen läßt, gleichwie das Wasser in 
einem Eimer getragen wird. Keiner von uns hat es jemals ver¬ 
sucht. Darum, wenn es euch gefällt, so wollen wir daran gehen. 
Gerät’s, so haben wir es um so besser, und werden wir großes 
Lob erjagen; geht es aber nicht, so soll uns doch der Versuch 
noch nicht gereuen.“ Dieser Rat gefiel allen Schildbürgern 
dermaßen wohl, daß sie beschlossen, denselben in aller Eile 
auszuführen. Deswegen kamen sie nach Mittag, als die Sonne 
am besten schien, vor das neue Rathaus, ein jeder mit seinem 
Geschirr, in das er den Tag zu fesseln gedachte. Es brachten 
auch etwelche Schaufeln, Kärste und Gabeln mit, daß ja nichts 
verabsäumt würde. Sobald nun die Glocke eins geschlagen, 
da konnte man Wunder sehen, wie sie zu arbeiten anfingen. 
Viele hatten lange Säcke, darein ließen sie die Sonne scheinen, 
bis auf den Boden; dann knüpften sie den Sack eilends zu und 
rannten damit in das Rathaus, den Tag auszuschütten. Andere 
taten dasselbe mit verdeckten Gefäßen, als Hafen, Kesseln, 
Zubern, und was dergleichen ist. Einer lud den Tag mit einer 
Strohgabel in einen Korb, ein anderer mit einer Schaufel. 
Eines Schildbürgers aber soll besonders gedacht werden, welcher 
den Tag mit einer Mausefalle zu fangen gedachte und ihn so, 
mit List bezwungen, in das Rathaus tragen wollte. Und solches 
trieben sie den lieben langen Tag, so lange, als die Sonne schien, 
mit solchem Eifer, daß sie vor Hitze fast verleehzten und vor 
Müdigkeit fast erlagen. Zuletzt sprachen sie: „Es geht zwar 
nicht, aber es wäre doch eine feine Kunst, wenn es geraten 
Wäre,“ Und dabei zogen sie ab und hatten doch so viel ge-
	        
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