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Als Herakles diese lockende Rede und Versprechungen hörte, fragte
er verwundert: „Weib, wie ist denn aber dein Name?“ Sie antwortete:
„Meine Freunde nennen mich die Glückseligkeit, meine Feinde dagegen,
die mich herabsetzen wollen, heißen mich das Laster.“
3. Unterdessen war auch die andre Frau herzugetreten. „Auch
ich,“ sagte sie, „komme zu dir, lieber Herakles; denn ich kenne deine
Eltern sowie deine Natur und deine Erziehung. Hiernach hege ich
die Hoffnung, daß du, wenn du meinen Weg einschlagen wolltest,
ein trefflicher Arbeiter werden würdest auf dem Felde alles Guten
und Großen, ich selber aber durch dich noch zu viel größerm An¬
sehen gelangen würde. Doch will ich dich nicht betrügen durch Vor¬
spiegelung von Genüssen, sondern ich will dir alles der Wahrheit
gemäß darstellen, wie es die Götter angeordnet haben. Wisse also,
daß von allem, was gut und wünschenswert ist, die Götter den Men¬
schen pichts ohne Arbeit und Mühe gewähren. Willst du, daß die
Götter dir gnädig seien, so mußt du sie verehren; willst du, daß
deine Freunde dich lieben, so mußt du den Freunden nützlich werden;
strebst du danach, von deinem Vaterlande geehrt zu werden, so mußt
du ihm Dienste leisten. Sollen deine Felder dir Früchte tragen, so mußt
du sie bebauen; sollen deine Herden gedeihen, so mußt du sie pflegen.
Willst du kriegen und siegen, so mußt du die Kriegskunst erlernen;
soll dein Körper deinem Willen dienstbar sein, so mußt du ihn durch
Arbeit und Schweiß abhärten.“ Hier fiel ihr das Laster in die Rede:
„Siehst du wohl, lieber Herakles, wie lang und beschwerlich der Weg
ist, auf welchem dieses Weib dich zu Glück und Freude zu führen
verspricht? Ich dagegen werde dich auf dem leichtesten und kürzesten
Pfade zur Seligkeit leiten.“ „Zur Seligkeit?“ erwiderte die Tugend,
„nein, zu Schmach und Schande führet das Laster; verstoßen ist es
von den Göttern und bei den Menschen verachtet. Ich aber habe
mit den Göttern, habe mit allen guten Menschen Verkehr. Ich ver¬
breite Glück im Hause, fördre die Geschäfte des Friedens, kämpfe
ruhmreich im Kriege. Meine Freunde sind geehrt bei jung und alt,
geachtet vom Vaterlande, geliebt von den Göttern. Und ist zuletzt
des Lebens Ende gekommen, so liegen sie nicht in Vergessenheit be¬
graben, sondern leben, von der Nachwelt gepriesen und gefeiert, im
Gedächtnis aller Zeiten. Zu solchem Leben entschließe dich, lieber
Herakles, und die höchste Seligkeit ist dir beschieden.“
Hierauf verschwanden die Gestalten, und Herakles befand sich
wieder allein. Er entschloß sich, dem Rufe der Tugend zu folgen.
Da sollten ihm freilich schwere Arbeiten und Kämpfe auferlegt werden;
allein er bestand sie mit Heldenkraft und wurde dadurch der Wohl¬
täter seines Vaterlandes. j. c.Andrä.