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6- „Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem
Zwecke zu gelangen," dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.
„Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf. — „Dein Pelz?"
sagte der Schäfer. „Laß sehen! er ist schön, die Hunde müssen dich nicht
oft untergehabt haben." — „Nun, so höre, Schäfer; ich bin alt und werde
es so lauge nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache
dir meinen Pelz." — „Ei, sieh doch!" sagte der Schäfer. „Kommst du
auch hinter die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein, dein Pelz würde
mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber
ein Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gib mir ihn gleich jetzt." —
Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh.
7. „O die Unbarmherzigen!" schrie der Wolf und geriet in die
äußerste Wut. „So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der
Hunger tötet; denn sie wollen es nicht besser!" — Er lief, brach in die
Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder und ward nicht ohne
große Mühe von den Schäfern erschlagen. — Da sprach der weiseste von
ihnen: „Wir taten doch wohl unrecht, daß wir den alten Räuber auf das
äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen
sie auch war, benahmen!"
12. Gotthold Ephraim Lessing an seinen Bruder Karl.
Hamburg den 6. Julius 1769.
Lieber Bruder!
Ich danke Dir für die überschickten gedruckten Sachen. Deine Komödien
kommen zwar ein wenig zu spät. Denn Du kannst Dir leicht einbilden,
daß sich meine Neugierde nicht so lange gedulden konnte. Ich habe sie
gelesen, sobald sie hier zu haben waren. Und nun willst Du mein Urteil
darüber wissen? Wohl; aber merke Dir voraus, daß es das Urteil eines
aufrichtigen Bruders ist, der Dich wie sich selbst liebt. Es muß Dich
nicht beleidigen, wenn es Dich auch anfangs ein wenig verdrießen sollte.
Dein „Stummer Plauderer" und Dein „Lotterielos" haben meinen Beifall
gar nicht, und es ist nur gut, daß Du diese sehr mittelmäßigen Versuche
ohne Deinen Namen herausgegeben hast. Der größte Fehler dieser Stücke ist
eine platte Schwatzhaftigkeit und der Mangel alles Interesses. Der „Wild¬
fang" ist ungleich besser und könnte schon unter den guten Stücken mit
unterlaufen. Aber Du weißt, wie wenig davon Dein ist, und Du hast
nicht wohlgetan, daß Du Deine Quelle verschwiegeu. — Ich bitte Dich
nochmals, meine Freimütigkeit nicht übel zu nehmen. Wenn Du die
trockene Wahrheit von mir nicht hörst, wer wird Dir sie denn sagen? Ich
habe Dir es schon oft mündlich gesagt, woran ich glaube, daß es Dir