Full text: Für das sechste und siebente Schuljahr (Teil 3)

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Nachmittags drehte das Schiff bei, um zu loten. „Fünfzehn Faden; 
Sand mit roten Steinchen!" lautete der Bericht des Steuermannes. 
„Hurra!" jubelt die Mannschaft, „Borkum-Riff! Morgen sind wir 
da und feiern Neujahr daheim." 
Ja, es war deutscher Boden, den der mit Talg gefüllte, ausgehöhlte 
Fuß des Lotes heraufgebracht hatte. 
Von der Insel Borkum streckt sich ein schmaler Streifen nordwärts 
fünf bis sechs Meilen weit. Er ist mit diesem rötlichen Sande bedeckt, 
der sich sonst nirgends in der Nordsee findet. Dieser Streifen heißt 
Borkum-Riff, und wenn die Schiffe ihn anloten, dann gibt er ihnen 
genau ihre Lage an. 
Deutscher Boden, Heimat — endlich, nach so langer, langer Zeit! 
Wie freudig klopfen die Herzen! 
Der Kapitän hat, auf dem Halbdeck stehend, die Meldung des 
Steuermannes empfangen. O, auch er sehnt sich von Herzen nach der 
Heimat, nach Weib und Kind, von denen er so lange getrennt gewesen. 
Auch er hofft, das neue Jahr mit ihnen zu feiern, die in banger Sorge 
seiner Rückkunft geharrt. Aber noch spiegelt sich auf seinem Antlitz keine 
Freude; denn bange Zweifel verscheuchen sie. 
Dort am Horizonte tauchen viele Segler auf. Er mustert jeden scharf 
mit seinem Fernrohre, doch nirgends zeigt sich, was er so eifrig sucht. 
Der Lotsenkutter mit der Flagge an der langen Stange, die ihn auf Meilen 
kenntlich macht, befindet sich nicht unter ihnen. 
Im Westen steigt langsam eine dunkle Bank drohend am Horizont 
empor, und das Barometer fällt. Wie lange wird das gute Wetter noch 
anhalten? Vielleicht bis zum nächsten Tage, vielleicht aber bricht auch 
schon in der Nacht der Sturm wieder los, und wer sagt, mit welcher 
Gewalt und Dauer in dieser Jahreszeit? 
Für den Kapitän hat ja der Sturm sonst nichts Furchtbares. Wie 
viele hat er in seinem Leben überstanden, wie viele selbst auf der letzten 
Reise! Wie sie auch tobten — mit einem guten Schiffe unter den Füßen 
nimmt der Seemann getrost den Kampf mit ihnen auf. Doch in engem 
Fahrwasser, ohne Sonne und Mond, mit unbekannten Strömungen und 
Untiefen, wie sie das Einlaufen in unsere nordischen Ströme so gefahr¬ 
voll machen, und durch die nur ein erfahrener Lotse den Weg führen 
kann — da hat eine dunkle, stürmische Winternacht ihre Schrecken. 
Die Brise frischt auf. Unter ihrem Drucke jagt das Schiff schneller 
und schneller durch die Fluten; aber auch jene finstere Bank steigt höher. 
Einzelne Flecken reißen sich von ihr los und jagen wild über die graue, 
bleierne Wolkendecke. Das Barometer bleibt im Fallen, und die Nacht 
bricht herein. 
Dietleins Deutsches Lesebuch Ausg. D Teil III. 8. Aust. 
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