Full text: [Teil 3b = 9. Schulj] (Teil 3b = 9. Schulj)

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bis fast ans Ende der L.-Straße, und dazu hat sich jetzt ein böses 
Wetter aufgemacht, so recht novemberhaft mit Sturm, Regen und 
Schnee, und Schutz auf diesem Wege gibt es nicht. Schlimmer aber 
als dies ist die Bangigkeit des Herzens, die unsre Schwester beschleicht, 
je näher sie ihrem Ziele kommt; denn sie weiß, was ihrer in jenem 
Hintergebäude harrt, das da seitwärts durch die entlaubten Äste der 
Akazien blickt. 
5. Dort in der Ecke eines wenig reinlichen Zimmers auf ärmlichem 
Lager fast nur von Stroh liegt bleich und abgezehrt eine Frau, an¬ 
scheinend am Ende der Vierziger. Ein unheimliches, schreckliches 
Krebsleiden ruft seit langen Wochen unsre Schwester täglich an diese 
Stelle. Wohl möchte ihre Liebe entbehrlich scheinen; denn was nicht 
Sache des Arztes ist, könnten die beiden einzigen Kinder, erwachsene 
Mädchen von 18 und 20 Jahren, leisten, die gesund, kräftig und nicht 
häßlich, dort hinter dem trüben Fenster kaum ernstlich beschäftigt 
sitzen, und der Vater, ein Handwerker, der in der Vollkraft seiner 
Jahre steht. Doch er ist seit etwa 14 Tagen durch dickgeschwollne 
Füße — Folgen der übermäßigen Trunksucht — an jenes zerlumpte 
Sofa gefesselt. Und die Töchter? Von der zu weichen Mutter in ihrer 
Jugend vielleicht nicht streng genug zur Arbeit angehalten, haben 
sie sich der Trägheit und infolgedessen dem Leichtsinn ergeben, und 
dieser ist mächtiger als das Flehen einer seit Jahren schwer kranken 
Mutter. 
Mit einem flüchtigen Gruß gegen Vater und Töchter, mit einem 
warmen „Grüß’ Gott" für die Schwerkranke steht Schwester E. an 
deren Lager, jede von ihnen beiden mit stummem Verständnis die 
Augen in die der andern tauchend. Leise, nur wenige Worte austau¬ 
schend verbindet Schwester E. die Kranke, bettet sie von neuem, reicht 
ihr aus ihrem kleinen Vorrat einige Erquickungen, und beide falten dann, 
unbekümmert um das spöttische Lächeln der Töchter und die rohen 
Schmerzensflüche des Vaters, ihre Hände zum brünstigen Gebet. Wohl 
duldet nun auch der Vater stumm die Erneuerung des Verbandes an 
seinen Füßen durch geschickte Hände, poltert auch mit rauher Stimme 
ein „Schön Dank" heraus; doch für jeden Versuch, in die Nacht der 
Seele hineinzuleuchten, findet die Schwester bei Vater und Töchtern 
nur ein trotziges und verstocktes Herz. Solche Erfahrungen sind die 
schrecklichsten im Berufe einer Gemeindepflegerin, und Schwester E., 
nachdem sie noch einen stummen Blick rückwärts auf die Dulderin 
geworfen — einen Abschiedsblick vielleicht fürs Leben — wird draußen 
vor dem, was ihr so gewaltig das Herz bewegt, den Regen und den 
Sturm nicht gewahr. 
Theodor Schäfer. (Die innere Mission in der Schule.)
	        
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