Full text: Lesebuch für Mittelklassen

und forderte frech, man sollt' ihn verehren. 
„Wie käm' ich,“ sprach er, „zum Dienste als Knecht? 
Ich zähle mich zu der Blumen Geschlecht; 
um das zu beweisen, bedarf's nicht viel 
ich habe so gut wie sie einen Stiel.“ 
Darüber lachte das ganze Haus 
und sagte: „Der Stiel macht's doch nicht aus! 
Willst du den Rang der Blumen erstreiten, 
so mußt du süßen Geruch verbreiten.“ Langbein 
289. Die Lerche. 
1. Es ist zur Zeit des Vorfrühlings. Noch ist der Tag nicht 
angebrochen. Die Schatten der Nacht bedecken das Feld. Ruhig 
und schweigend liegt die weite Flur da; kaum ein Blättchen des 
sprossenden Getreides schwankt im Zuge der kühlen Luft. Da dämmert 
es allmählich im Osten; die Sonne sendet ihre ersten Strahlen zu 
den Wolken, die wie weiße Lämmchen droben am tiefblauen Himmel 
schimmern. Zwischen den dunkeln Schollen des Ackers regt es sich; 
ein Lerchenpärchen erhebt sich, das daselbst seine Nachtruhe gehalten 
hat. Das Männchen hüpft auf einen Erdhügel, seinem Rufe ant— 
wortet das Weibchen. Sie sagen sich „guten Morgen!“ und wünschen 
sich Glück zur Ankunft im Heimatlande. 
2. Erst gestern sind sie wiedergekommen. Ende Oktober zogen 
sie mit den Gefährten fort gen Süden, nach milden Ländern. Dort 
verlebten sie die unfreundliche Zeit des kalten und düsteren Winters. 
Noch ist kein Sänger des Waldes zurückgekehrt; Nachtigall und Kuckuck 
weilen noch fern — nur die Lerche kam wieder. Da sitzt das 
Männchen auf der Scholle, schüttelt die Federn und putzt die staubigen 
Schwingen; jetzt breitet es die niedlichen Flügel aus und steigt singend 
empor. In steiler Schraubenlinie flattert es aufrecht, höher und 
immer höher. Droben in dem Wölkchen scheint es zu verschwinden, 
aber deutlich hörst du das Lied, das in lieblichen Tönen dir des 
Vögleins jubelnde Lust erzählt. Der Lerche Gesang begrüßt die 
Sonne bei ihrem Aufgehen. Endlich senkt sich das muntere Vögelchen 
wieder herab, anfangs langsam, dann schneller, und die letzte Strecke 
stürzt es senkrecht hernieder, wie in kühnem Übermute. 
3. Mitten im Felde, weit ab vom Wege dem Blicke der lüs— 
ternen Katze verborgen, hat sich das Lerchenpärchen sein Nest gebaut. 
Da fand es eine Vertiefung; es ist der Eindruck, den ein Fußtritt 
vom Söhnchen des Landmanns einst gemacht hat. Als der Vater 
im Herbste pflügte und eggte, nahm er den lustigen Buben mit und 
ließ ihn auf dem kräftigen Rappen reiten, der die schwerrollende 
Walze zog. Dort hob er ihn herab, und der Fuß des Kleinen sank 
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