I. Die Jahres- und Festzeiten.
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Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß. „Pate Jochem,"
sagte ich leise, „hört Ihr nicht so ein Brummen in der Erde?" „Ja
freilich, Bub," entgegnete er, „es donnert was! es ist ein Erdbeben."
Da tat er schon ein klüglich Stöhnen. Auf der eisernen Straße heran
kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde
aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern
und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. Und hinterher —•
„Schau, Bub," rief mein Pate, „da hangen ja ganze Hauser dran, und
wahrhaftig," fuhr er händeringend fort, „jetzt fahren sie richtig ins Loch!"
Darauf wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht,
starrte in den Tunnel und fragte mich: „Hast du's auch gesehen, Bub?"
„Ich hab's auch gesehen." „Dann kann es keine Blenderei gewesen
sein," murmelte der Jochem.
Draus stiegen wir über den Berg. Als wir nach Mariaschutz kamen,
war es schon dunkel. Nachdem wir beim Wirt ein kleines Nachtmahl
genossen hatten, gingen wir auf den Heuboden, um zu schlafen. Wir
lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der Last der Eindrücke kein
Auge schließen, vermutete jedoch, daß der Pate bereits süß schlummere.
Da sagte dieser plötzlich: „Was meinst, Bübel, probieren wir's? Da
werden sie einmal schauen, wenn wir heimkommen und sagen, daß wir
auf dem Dampfwagen gefahren sind!" Ich war gleich dabei.
Als wir am andern Tage heimwärts wollten, lenkten wir unsern
Weg nach dem Semmering-Bahnhof. Hier sahen wir das Loch auf der
andern Seite. Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate unter¬
handelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und gleich
hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder absteigen. „Da
hält aber der Zug nicht," sagte der Bahnbeamte lachend. „Ihr müßt bis
Spital fahren. Das macht für zwei Personen zweiunddreißig Kreuzer."
Aber an uns beiden sei doch gar nicht viel Gewicht, meinte der Pate
ob wir nicht etwas billiger fahren dürften. Es half jedoch nichts; der
Beamte ließ nicht handeln. Der Pate zahlte, und ich mußte noch zwei
„gute" Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten Tunnel
der Zug hervor, schnaufte heran, zischte, spie und ächzte — dann stand er
still. Wir wären bald vor lauter Schauer nicht zum Einsteigen gekommen;
da schupfte der Schaffner den Paten in einen Wagen und mich nach.
In demselben Augenblick wurde der Zug abgeläutet. Im Wagen waren
Bänke, und als wir zum Fenster hinausschauten, schrie mein Pate: „Bub,
da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!" — Jetzt wurde es finster, und
wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden Stübchens eine Öllampe
brannte. Da draußen in der Nacht rauschte und toste es, als wären wir
von gewaltigen Wasserfällen umgeben, und ein- ums anderemal hallten
schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde.
N. Got t eslcb en, Deutsches Lesebuch.
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