Full text: Deutsche Dichtung des 18. Jahrhunderts (Band 2, [Schülerband])

Gotthold Ephraim Lessing 
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Ein Märchen ist es, erfunden in philisterhaften Tagen, als könne 
je ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme 
seiner Fahnen schaut ein Volk aus, wenn es seiner Vergangenheit ge⸗— 
denkt, und gern vergißt es die Männer, das Veraltete eines Kunstwerks, 
wenn die Glorie einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Nie 
genug werden wir die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Ge— 
sundheit und harmonischen Kraft beneiden, das ihnen die Kunst auf 
dem festen Boden staatlicher Größe reifte. Wo aber fand die deutsche 
Dichtung des 18. Jahrhunderts solch ein Fußgestell staatlicher Größe, 
daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von einem gesunkenen, ver⸗ 
achteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen unsere Sänger 
aus, und wie ihnen im Leben keines Medicäers Güte lächelte, so auch 
im Tode sind sie, was sie sind, durch sich selbst allein; durch sich selbst 
allein wirken diese Künstler auf die Nachgeborenen. Noch mehr, sie 
selbst erst sind die Schöpfer eines freieren öffentlichen CLebens in unserem 
Volke; sie standen unbewußt im Bunde mit jenen Staatsmännern, die 
dem deutschen Staatswesen ein menschliches Dasein bereitet haben. 
Wie sich von selbst versteht in einer Zeit, wo das häusliche Ceben 
die beste Kraft der Deutschen erschöpfte, geschah dies Hinüberwirken 
Lessings auf unser öffentliches Leben vornehmlich durch seine Person, 
durch die souveräne Selbständigkeit seines Charakters. Erst vor wenigen 
Jahren ist ein gutes Bild des Knaben Lessing bekannt geworden, und mit 
schalkhaftem Behagen sehen wir den Mann vorgebildet in den Zügen 
des Kindes. Da sitzt Theophilus Ce ssing, sittsam, ernst, in priester⸗ 
lich langem Gewande, ehrbarlich ein Lämmchen fütternd, daneben der 
aufgeweckte Bruder, „mit einem großen Haufen Bücher“, in der 
eleganten roten Tracht seiner Zeit; auch der Unkundige kann erraten, 
daß jenem bestimmt sei zu leben als dunkler Ehrenmann und Kon— 
rektor, diesem — als Gotthold Lessing. Kraft und Wahrheit spricht 
aus den derben Zügen des Knaben, und wahrlich, hart gebettet hat die 
Zeit den starken und wahren Mann. Sein Puls schlug bei voller Ge— 
sundheit so schnell wie der Puls anderer im Fieber; er besaß im höchsten 
Maße jene Lebhaftigkeit des Redens, welche die Obersachsen vor andern 
Deutschen auszeichnet. Wie rasch jagen sich da Fragen, Ausrufe, schnell 
wiederholte abgebrochene Worte, und er fand den Mut also zu schreiben, 
wie seine Candsleute dachten und sprachen. Nie hat ein Schriftsteller 
getreuer jenes Wort erfüllt, das seltsam genug ausgesprochen ward in 
ner Vation, die es nicht versteht — das Wort: le stile c'est ' homme. 
Dramatisch bewegt wie das Leben selber strömt sie dahin, diese schmuck⸗
	        
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