Full text: (Achtes und neuntes Schuljahr) (Teil 4 für Kl. 2 u. 1)

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Anregungen ruht eine geheimnisvolle Kraft; sie sind erheiternd und 
lindernd, stärken und erfrischen den ermüdeten Geist, besänftigen 
oft das Gemüth, wenn es schmerzlich in seinen Tlefen erschüttert 
oder vom wilden Drange der Leidenschaften bewegt ist. Was 
ihnen Ernstes und Feierliches beiwohnt, entspringt aus dem 
fast bewußtlosen Gefühle höherer Ordnung und innerer Gesetz¬ 
mäßigkeit der Natur, aus dem Eindruck ewig wiederkehrender Ge¬ 
bilde, wo in dem Besondersten des Organismus das Allgemeine 
sich spiegelt, aus dem Contraste zwischen dem sittlich Unendlichen 
und der eigenen Beschränktheit, der wir zu entfliehen streben. In 
jedem Erdstriche, überall, wo die wechselnden Gestalten des Thier- 
und PsianzenlebenS sich darbieten, ans jeder Stufe intellectueller 
Bildung sind dem Menschen diese Wohlthaten gewährt. 
Ein anderer Naturgenuß, ebenfalls nur das Gefühl anspre¬ 
chend, ist der, welchen wir nicht dem bloßen Eintritt in das Freie, 
wie wir tief bedeutsam in unserer Sprache sagen, sondern dem in¬ 
dividuellen Charakter einer Gegend, gleicbsam der physiognomischen 
Gestaltung der Oberfläche unseres Planeten verdanken. Eindrücke 
solcher Art sind lebendiger, bestimmter und deshalb für besondere 
Gemüthszustände geeignet. Bald ergreift uns die Größe der Natur- 
massen im wilden Kampfe der entzweiten Elemente, oder, ein Bild 
des Unbeweglich-Starren, die Öde der unermeßlichen Grasfluren 
und Steppen, wie in dem gestaltlosen Flachlande der neuen Welt 
und des nördlichen Asiens; bald fesselt uns, freundlicheren Bildern 
hingegeben, der Allblick der bebauten Flur, die erste Ansiedelung 
des Menschen, voll schroffen Felsschichteil umringt, am Rande des 
schäumenden Gießbachs. Denn es ist ilicht sowohl die Stärke der 
Anregullg, welche die Stufeil des individuellen Naturgenusses be¬ 
zeichnet, als der bestimmte Kreis von Ideell und Gefühlen, die sie 
erzeugen und welchen sie Dauer verleihen. 
Darf ich mich hier der eigenen Erillnerung großer Natur- 
scenen überlassen, so gedenke ich des Ozeans, weiln in der Milde 
tropischer Nächte das Himmelsgewölbe sein plailetarisches, nicht 
funkelndes Sternenlicht über die sailstwogende Welleilfläche ergießt; 
oder der Waldthäler der Cordilleren, wo mit kräftigem Triebe hohe 
Palmenstämme das düstere Laubdach durchbrechen unb als Säulen- 
gänge hervorragen, ‘ein Wald über dem Walde;' oder des Pies 
von Teneriffa, luenn horizontale Wolkenschichten den Aschenkegel 
von der unteren Erdfläche trennen, und plötzlich durch eine Öff¬ 
nung, die der allfsteigende Lllftstrvm bildet, der Blick von dem 
Rande des Kraters sich auf die weinbekränzten Hügel von Orotava 
und die Hesperidengärten der Küste biilabsenkt. Jil dieseil Scenen 
ist es nicht mehr das stille, schaffende Lebell der Natur, ihr ruhiges 
Treiben und Wirken, die uils ansprechen; es ist der individuelle 
Charakter der Landschaft, ein Zusammenfließen der Umrisse von 
Wolkeil, Meer und Küsten im Morgendufte der Inseln; es ist die
	        
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