Full text: [Teil 3 = Kl. 6] (Teil 3 = Kl. 6)

6. Der iMorgenstern. Von Hermann Wagner. 
Entdeckungsreisen in Stadt und Land. 7., Verb. Ausl. Leipzig 1909. Seite 3. — Gekürzt. 
Wie schön leuchtet der Morgenstern vom dunkelblauen Himmel! 
Er ist der Vorläufer der Sonne, der strahlende Bote, welcher 
vor der Königin des Tages einhergeht. Du weißt, daß es derselbe 
Stern ist, der zu andern Zeiten des Jahres abends sichtbar wird, 
und den man dann als Abendstern bezeichnet. Die Sternkundigen 
nennen ihn Venus. 
Von allen Sternen des Himmels — außer Sonne und Mond — 
ist er für uns der hellste. Sein Schein ist mitunter so stark, daß 
er an den Dingen der Erde einen Schatten erzeugt. Und doch ist 
es nur der Abglanz des Sonnenlichtes, den der Morgenstern uns 
sendet. Er selbst leuchtet nicht, sondern wird nur von der Sonne 
beschienen, ganz so wie der Mond und die Erde. Darum hat der 
Morgenstern auch, wie der Mond, eine helle und eine dunkle Seite 
und erscheint, durch das Fernrohr betrachtet, höchst selten voll¬ 
ständig rund wie der Vollmond. Meist scheint an der hellen Scheibe 
ein Stückchen zu fehlen. 
Der Morgenstern leuchtet uns nicht immer mit gleicher Hellig¬ 
keit. Es hängt dies nicht bloß davon ab, ob er uns einen größeren 
Teil seiner hellen Seite zukehrt oder mehr von der dunklen; sehr 
viel kommt es hierbei auch darauf an, ob er unsrer Erde näher 
steht oder entfernter von ihr ist. Er marschiert nämlich in ähn¬ 
licher Weise um die Sonne herum wie unsere Erde. Beide Sterne 
sind Geschwister, ja sie ähneln sich so sehr, daß man sie als ein 
Paar Zwillinge betrachten könnte. 
Die Venus steht der Sonne etwas näher. Es beträgt dies 
zwar fünfundeinviertel Millionen Meilen, für einen Stern ist das 
aber nicht viel; denn die Sterne wandern viel schneller, als eine 
Kanonenkugel aus dem Rohre fliegt. Könnte man eine Eisenbahn 
durch den Himmelsraum zu ihr anlegen und mit dem Dampfwagen 
darauf so schnell fahren, wie ein Postzug gewöhnlich zu fahren 
pflegt, vier Meilen in einer Stunde, so würden doch einhundert¬ 
fünfzig Jahre nötig sein, um bis zum Morgenstern zu kommen, 
also viel länger, als ein Menschenkind lebt. Währenddessen bleibt 
der Stern freilich auch nicht an derselben Stelle stehen, sondern 
fliegt schneller weiter, als man sich’s vorstellen kann. Binnen 
einhundertzwölf Tagen ist er nicht mehr fünfundeinviertel, sondern 
sechsunddreißig Millionen Meilen von der Erde entfernt.
	        
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