134
D. Deutsche Sagen und Erzählungen aus der vaterländischen Geschichte.
er in dieser Zeit nach der Pfaueninsel kam, wo er gern weilte, pflegte er gleich
beim ersten Schritte ans Land zu fragen: „Wie geht es meiner lieben
Charlotte?“ Man denke daher den Schrecken und die Angst des besorgten
Pflegers, als er einst an einem Tage des zahlreichsten Besuchs in das
Gewächshaus tritt und die dem Könige so werte Blume vermißt. Sie
war abgepflückt.
2. Von Unruhe hin und her getrieben, den Täter zu entdecken, stellt er
sich an den Platz der Überfähre. Nicht lange, so nähert sich ein junger,
wohlgekleideter Mann mit der Blume in seinem Knopfloche. Heiter und
unbefangen, als wäre nichts Übles geschehen, schreitet er einher. Zur Rede
gestellt über den von ihm begangenen Raub, entschuldigt er sich mit seiner
Unwissenheit und bedauert und beklagt die von ihm leichtsinnig verübte Tat.
Der verantwortliche Hofgärtner aber
führt den bestürzten jungen Mann in
seine Wohnung und läßt den ganzen
Tatbestand aufzeichnen und von Zeugen
unterschreiben zu seiner Rechtfertigung
vor dem Könige.
5*
3. Als dieser bald nachher zur Pfauen—
insel kam und wie gewöhnlich fragte:
„Was macht meine liebe Charlotte?“
und der Gärtner unter Tränen den
Verlust meldete und den Hergang
erzählte, umwölkten sich zwar des RKönigs
Züge; er blieb aber doch ruhig und
gelassen und sagte nur, wie unrecht es
sei, ihm auch seine kleinen Freuden zu
verderben. Dem Volke blieb aber nach wie vor der Zutritt auf der
Pfaueninsel erlaubt, wie sehr der gekränkte Beamte das Verbot auch emp—
fehlen mochte. „Was können denn die andern dafür,“ entgegnete der
König, „wenn unter Tausenden ein Ungezogener ist, der die verstattete
Freiheit mißbraucht? Wozu denn diese Schönheiten, namentlich die schnell
oerblühenden Blumen, wenn außer mir niemand seine Freude daran haben soll?
Ich kann nur selten hier sein.“ Als aber der Gärtner den Namen des
Täters nennen wollte, fiel der König schnell abwehrend ein: „Nein, nein,
ich will den Namen gar nicht wissen; der könnte mir wieder
einfallen, wenn der Mann später einmal etwas zu bitten haben
sollte. Vergessen, vergeben!“