Full text: [Teil 4 = Kl. 5 u. 4] (Teil 4 = Kl. 5 u. 4)

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in. 
Als die Normannen auf ihrer Flucht die heimischen Burgen vor 
Augen hatten, trat König Ludwig zu Gudrun und ermahnte sie, sich in 
ihr Schicksal zu finden. Er zeigte ihr das Land, über welches sie 
herrschen sollte, wenn sie seinen Sohn Hartnult zum Manne nähme. 
Sie aber blieb standhaft und erklärte, sie wolle lieber sterben, ehe sie 
das täte. Da brauste der König in wildem Zorne aus, ergriff sie bei 
den Haaren und warf sie über Bord. Gudrun hätte nun ihren Tod 
in den Wellen gefunden, wenn nicht Hartmut ihr nachgesprungen wäre 
und sie gerettet hätte. Ludwig bereute auch die Tat und schickte Boten 
an Gerlinde, seine Gemahlin, mit der Bitte, die fremden Frauen bei 
der Landung wohl zu empfangen. Da erschien denn auch Gerlinde mit 
ihrer Tochter, der guten Ortrun, welche Gudrun wie eine Schwester 
empfing und herzlich küßte. Auch Gerlinde wollte Gudrun mit so trau¬ 
lichem Gruße empfangen; aber diese wandte sich unwillig von der Argen 
weg. Die Königin verbiß ihren Zorn; denn sie hoffte, Gudrun werde 
doch noch den Wünschen ihres Sohnes gefügig werden. Sie täuschte 
sich jedoch darin; allen Bitten zum Trotz weigerte sich die Jungfrau, 
den zum Manne zu nehmen, durch den sie ihren Vater und ihre Heimat 
verloren hatte. Da wurde Hartmut sehr bekümmert; die böse Gerlinde 
aber sprach: „Willst du nicht Freude haben, so sollst du Leid erfahren. 
Du sollst fernerhin mein Zimmer heizen und die Brände mit eigner 
Hand schüren." Gudrun antwortete: „Meiner Mutter Tochter hat zwar 
selten die Brände geschürt, doch verstehe ich es wohl zu tun, was Ihr 
mir gebietet." Auch die harte Arbeit beugte den Sinn Gudrnns nicht, 
und selbst als Gerlinde ihr drohte, sie sollte mit ihren Haaren den Staub 
wischen, blieb sie bei ihrer Weigerung. Auch Hartmuts und Ortruns 
gütliches Zureden halfen nicht; denn Gudrun wollte lieber alle Drangsale 
erdulden, als ihrem Verlobten die Treue brechen. So trug sie alles 
bis in das neunte Jahr. Als Gerlinde sah, daß alle Härte ohne Erfolg 
blieb, beschloß sie, dieselbe noch tiefer zu demütigen. Sie befahl ihr, 
täglich Wäsche an den Strand zu tragen und dort mit eigener Hand zu 
waschen. Auch durch diese Schmach ließ sich Gudrun nicht erweichen. 
Sie verrichtete ihre Arbeit, so daß ihr kein Vorwurf gemacht werden 
konnte. Ihr einziger Trost war, daß die treue Hildburg, ihre Jugend- 
gespielin, sich erboten hatte, ihr dabei zu helfen. So konnten die beiden 
heimatlosen Frauen doch wenigstens trauliche Zwiesprache pflegen und sich 
dadurch die lange Zeit verkürzen. 
IV. 
Es war an einem Mittwoch in der Fastenzeit, als Gudrun und 
Hildburg wieder am Strande wuschen. Da kam ein Vogel herbei¬ 
geschwommen. Der aber konnte sprechen und sagte: „Ich bin ein Bote, 
dir von Gott gesandt; du kannst mich fragen, ich will dir Nachricht
	        
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