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6. Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau:
Es scheinen die allen Weiden so grau. —
7. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt,
und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!" —
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! —
8. Dem Vater grauset's; er reitet geschwind,
er hält in den Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hos mit Mühe und Not;
in seinen Armen das Kind war tot.
32. DlC Bürgschaft* Von friedrieb von Schiller.
Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe von Karl Goedeke.
11. Teil. (Gedichte.) Stuttgart 1871. 8. 284.
1. Zn Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewände;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!"
entgegnet ihm finster der Wüterich.
,Die Stadt vom Tyrannen befreien!'
„Das sollst du am Kreuze bereuen!"
2. ,Jch bin/ spricht jener, ,zu sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen, —
ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.'
3. Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist,
eh' du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblassen,
doch dir ist die Strafe erlassen."
4. Und er kommt zum Freunde: ,Der König gebeut,
daß ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;