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Ob Frühling blüh, ob Herbstlaub gelbe,
dein Sitz am Ofen stets derselbe,
schon halb entschlummert Weib!
Und doch — ein Hauch! und deine Mängel
sind abgefallen! Du ein Engel
vor Gottes lichtem Thron! —
Mühsam ist hier die Bahn zu wallen,
schwer das Bestehen, leicht das Fallen,
doch überreich der Lohn.
80. Nachbar Helm und seine Linde.
(Honcamp.)
Im Häuslein gegenüber, da wohnt ein Zimmermann,
heut vor dem Hans die Linde, hub er zu fällen an.
Ich sprach: „Gott grüß' Euch, Nachbar! doch sagt, was Ihr beginnt
Der Baum beschützt das Häuslein vor Wetter doch und Wind!"
Da hielt er ein und schaute von seiner Arbeit aus
und sah mich an und blickte zur Linde hoch hinaus:
dann legt' er beide Hände still ans sein Arbeitszeug,
lehnt an den Baum und sagte: „Nachbar, ich danke Euch!
Die Linde pflanzt' mein Vater, als ich geboren war,
sie grünt und blüht alljährlich schon über siebzig Jahr;
mein Weib am Hochzeitstage — sie war ein junges Blut —
stak mir von diesem Baume ein Zweiglein an den Hut.
Viele Gäste thät ich laden, zu enge ward das Haus,
hier unter dieser Linde, da hielten wir den Schmaus.
Ein Sohn ward uns geboren, da gab sich's viel zu freun,
und seinen Namen grub ich in diese Linde ein.
Die Linde wuchs und prangte, der Knabe ward ein Mann;
bei Leipzig in der Ebne stand er im Heeresbann;
zum Kampfe ziehend, trug er zwei Lindenzweig' am Hut;
bei Leipzig an den Wällen verrann sein junges Blut.
Nun hängt in unsrer Kirche die Tafel an der Wand,
da steht: „Franz Helm, gestorben für König und Vaterland."
Mein Weib und ich, wir weinten viel um den guten Franz,
wir wanden um die Tafel frisch einen Lindenkranz.