Full text: [Teil 3 = Kl. 6] (Teil 3 = Kl. 6)

VQ. 107 
Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühlingsgrün nur dadurch, 
daß ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, und den 
hielt er über seinem Haupte und träumte dann, unter Buchen zu sein, 
wo die Sonne schiene und Vögel sängen. 
An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feld¬ 
blumen, und unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, und deshalb 
wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht am Bett an das 
Fenster gestellt. Und die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt; 
sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trug jedes Jahr ihre Blumen; sie 
wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz 
hier auf Erden; er begoß und pflegte sie und sorgte dafür, daß sie jeden 
Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunter¬ 
glitt, erhielt; und die Blume selbst verwuchs in seine Träume; denn für 
ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute sie das Auge; zu 
ihr wendete er sich im Tode, als der Herr ihn rief. 
Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume 
vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt; sie wurde deshalb beim 
Umziehen im Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist 
die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern 
Blumenstrauß genommen haben; denn diese Blume hat mehr Freude 
gewährt als die reichste Blume im Garten einer Königin!" 
„Aber woher weißt du das alles?" fragte das Kind, welches der 
Engel gen Himmel trug. 
„Ich weiß es!" sagte der Engel; „denn ich war selbst der kleine 
kranke Knabe, welcher auf Krücken ging; meine Blume kenne ich 
wohl!" 
Und das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels 
herrliches, frohes Antlitz hinein, und in demselben Augenblicke befanden 
sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott 
drückte das tote Kind an sein Herz, und da bekam es Flügel wie der 
andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm; und Gott drückte alle 
Blumen an sein Herz; aber die arme verdorrte Feldblume küßte er, und 
sie erhielt eine Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott um¬ 
schwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen, 
und immer weiter und weiter, in das Unendliche, aber alle gleich 
glücklich. Und alle sangen sie, kleine und große, das gute, gesegnete 
Kind und die arme Feldblume, welche verdorrt dagelegen hatte, hin¬ 
geworfen in den Kehricht, unter dem Unrat des Umziehetages, in der 
schmalen, dunklen Gasse.
	        
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