§. 956. Die Zeit des heiligen Bundes. 571
schen Thätigkeit, wie sie noch nie ans so kleinem Raume vereinigt war. Als aber der Tod
Einen um den Andern der großen Dichter abrief, und ein Jahr nach Schiller's Hintritt
die Schlacht von Jena und Die verhänguißvollen Kriegsereignisse den literarischen Kreisen
einen erschütternden Schlag versetzten, hörte das Land auf, Sammelplatz und Brennpunkt
der Cultur zu sein; Weimar blieb nicht länger die Metropole der Dichtkunst, alle Städte
und Landschaften singen an, mit eigenem Lichte zu strahlen. Mit Staunen wurde man
nun gewahr, welche Riesenschritte die Bildung im ganzen Vaterlande und unter allen
Klassen gemacht. Die Blicke der anderen Völker richteten sich nach Deutschland, und die¬
jenige Nation, die bisher so oft ihre geistigen Bedürfnisse von fremdem Abfall gesättigt,
Diente jetzt ihren frühern Lehrmeistern, den Franzosen, Engländern, Italienern, als
Muster und Vorbild. Nur die humoristisch-sentimentale Romanliteratur eines
Thümmel und Jean Paul lehnte sich an englische Vorbilder an. Dagegen nahm die
neuromantische Poesie und Kunst, die im Gegensatz zu dem Geist der Aufklärung
und der Revolution das Mittelalter mit seiner religiösen Dichtung, Kunst und Mystik
zurückzuführen bestrebt war, von Deutschland aus ihren Zug durch Europa. Zwar mi߬
billigte Napoleon die Neigung der Franzosen für deutsche Cultur und verbannte Frau
von Stael aus seinem Reiche, weil sie gewagt, in ihrem Buche über Deutschland
ein anderes Volk, als die Franzosen, zu preisen, allein der Einfluß des deutschen Geistes¬
lebens machte sich dennoch geltend; die klassische Vornehmheit und Politur der alten Zeit
erlag in Paris der mit jugendlichem Ungestüm auftretenden und von den Sympathien
des Volks getragenen neuromantischen Schule. Ebensowenig vermochte sich Eng¬
land den Einwirkungen deutscher Bildung zu entziehen, wie sehr auch die orthodoxen
Wächter des anglikanischen Zion gegen die deutsche Freigeisterei und Denkgläubigkeit
eiferten. Der begabteste ihrer Dichter, Lord Byron, vereinigte in sich den ungestümen
Freiheitsdrang der Kraftgenies, die philosophische Wegsetzung über kirchliche und consessio-
nelle Beschränktheit unserer großen Dichter und das überreizte Gefühls- und Seelenleben,
so wie die Sinnlichkeit unserer Romantiker. Aber alle diese Eigenschaften steigerte er aufs
Aeußerste und wurde dadurch der Schöpfer jener, auch nach Deutschland verpflanzten,
unglücklichen Poesie der „Zerrissenheit" und des „Weltschmerzes", zu der sich die vor¬
nehme Welt hingezogen fühlte, weil sie darin die eigene Stimmung wiederfand. Auch
nach Scandinavien, Polen und Ungarn bahnte sich die deutsche Literatur einen Weg.
Der große Völkerkrieg gegen Napoleon, der, wie einst die Kreuzzüge, fast alle europäischen
Staaten gegen den mächtigen Zwingherrn unter die Waffen führte, begünstigte und
erleichterte den Austausch. Es entstand gleichsam eine Weltliteratur, in welcher
nicht ein bestimmter Geschmack, wie einst der französische, Ton und Richtung angab und
die Herrschaft führte, sondern worin Alles, was irgend eine Nation Großes und Schönes
geschaffen, Geltung und Würdigung haben sollte.
§. 956. Romanliteratur. (Jean Paul.) Die Romanliteratur, die in der stürmischen Zeit
der siebenziger Jahre neu belebt wurde, gewann bald einen so festen Boden und solche Bedeutung
für die ganze neuere Bildung, daß sich ihr die hervorragendsten Talente zeitweise zuwandten und
sich ihrer als Rahmen für ihre Grundsätze und Ansichten, ihre Gefühle, Betrachtungen und
Erfahrungen bedienten. Von den Tendenz-Romanen aus der Zeit des Sturmes und Dranges,
worin kühn vorstrebende oder mit der Außenwelt zerfallene Geister der prosaischen Wirklichkeit
eine dichterische Idealwelt, ein poetisches Gefühl und Geistesleben entgegenstellten, wie Goethe'S
Werther, wie Klinger's Faust u. A. ist früher die Rede gewesen. Diesen „Genialen" gegenüber
stand in derselben regsamen Zeit eine Reihe Schriftsteller, die dem „Weltschmerz" einen univer¬
salen „Weltscherz" entgegensetzten, die nicht auf eine Umgestaltung des ganzen Lebens ausgingen,
sondern sich mit Reformen einzelner Mängel begnügten; die nicht wie jene alles Kleine und
Schwache bekämpften, sondern „des Menschen größte Zwecke und Bestrebungen oft an die kleinsten
Anlässe, Beweggründe und Mittel geknüpft sahen, die des Menschen Schwäche liebenswürdig,
seine Kleinheit rührend fanden und daher in ihren Romanen eine humoristische, heitere,
bescheidene, ja beschränkte Lebensbetrachtung an die Stelle des tragischen Ernstes der Genialen
setzten." Daraus gingen die humoristischen Romane hervor, die sich an die Engländer
Sterne, Smollet, Fielding und Goldsmith (§. 680) oder an Don Quixote und Gilblas