Full text: Die vorchristliche Zeit (Theil 1)

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begegnete ihm Hermes in der Gestalt eines zarten Jünglings. Der gab 
ihm das Kraut Moly, um ihn gegen den Zauber der Circe zu schützen. 
Zugleich ertheilte er ihm noch den Rath, in 'dem Augenblicke, wo die Zau¬ 
berin ihn mit ihrem Stabe berühren wiirde, mit dem Schwerte auf sie 
einzudringen, gleich als wollte er sie ermorden. Darauf verschwand der 
Gott zu den Höhen des Olympos. 
Odysseus langte an der Pforte des Palastes an und ries die Göttin, 
die ihn einlud, näher zu treten. Sie reichte auch ihm einen Becher Weins, 
der mit schädlichen Zauberkräntern gemischt war; doch Odysseus trank, 
ohne daß es ihm schadete, denn er hatte das Kraut Moly in seiner Tasche. 
Nun berührte ihn die Zauberin mit ihrem Stabe, um ihn in ein Schwein 
zu verwandeln und gleich seinen Gefährten in den Koben zu sperren. Da 
aber rannte Odysseus mit gezücktem Schwerte auf sie los und laut schreiend 
sank Circe zu seinen Füßen, umfaßte ihm die Kniee und rief: „Wer bist 
du, der du dem Zanbertranke widerstehest, dem noch kein Mann wider¬ 
standen hat? Bist du vielleicht Odysseus, dessen Ankunft mir Hermes 
verkündet hat? Stecke das Schwert in die Scheide und laß uns Beide 
ans dem Teppich Platz nehmen!" 
Doch Odysseus traute der Arglistigen nicht eher, bis sie ihm durch 
einen Eidschwur versichert hatte, nicht auf ferneren Schaden zu denken. 
Jetzt deckte eine Dienerin für Odysseus einen schönen Sessel mit purpnr- 
rothem Polster, davor stellte eine andere einen silbernen, mit goldenen Kör¬ 
ben besetzten Tisch; eine dritte mischte Wein und die vierte wärmte in 
einem ehernen Kessel Wasser zum Bad für Odysseus. Nach dem Bade 
hüllte sich der Held in den prächtigen Mantel und Leibrock, den ihm Circe 
reichte, und ließ sich ans den Sessel nieder. Doch auch jetzt noch trug er 
Bedenken, von den Speisen des reichbesetzten Tisches zu kosten, und er aß 
nicht eher, bis ihm die Göttin seine Genossen, die als neunjährige Eber 
vor Odysseus erschienen, wieder in Menschen verwandelte. Durch die 
Zauberkräfte der Circe waren alle diese Männer nun viel jünger und schö¬ 
ner, als vorher; und Odysseus lebte mit seinen Genossen ein ganzes Jahr 
in dem schönen Palast. 
3. 
Als Odysseus von der Zaubergöttin Abschied nahm, offenbarte ihm 
diese noch die Zukunft. „Du wirst" — so sprach sie — „nicht eher in 
deine Heimath gelangen, bis du in die Unterwelt hinabgestiegen bist und 
den Seher Tiresias um deine Fahrt befragt hast." Zugleich zeigte sie 
ihm den Weg zum furchtbaren Hades und lehrte ihn die Opfer, durch 
welche die Schatten der Todten herbeigelockt werden. Odysseus merkte sich 
Alles genau. 
Die Fahrt ging über den großen Strom Oceanus, der die ganze 
Erdscheibe umkreist; an dessen Ende, in dichte Finsterniß gehüllt, lag der 
Ort, den Circe ihm als Eingang zur Unterwelt bezeichnet hatte. Hier 
grub Odysseus ein Loch, eine Elle in's Geviert, und goß ein Trankopser
	        
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