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Siegfried ist tobt. Da heben die Herren den Leichnam des Helden,
alter Sitte und Ehre gemäß, auf einen goldrothen Schild und tragen ihn
gen Worms an den Rhein. Manche reden davon, daß man sagen solle,
Räuber hätten ihn erschlagen, um den Schandfleck des Verwandtenmordes
zu verhehlen. „Ich will — ruft Hagen — ihn selbst nach Worms brin¬
gen ; was kümmert es mich, wenn Kriemhilde erfährt, daß ich. ihn er¬
schlagen habe. Sie hat Brunhilden so schwer gekränkt, nun mag sie
weinen, so viel sie will!"
Und der entsetzliche Hagen läßt noch in der Nacht den Todten vor
die Thür des Hauses legen, in dem Kriemhilde wohnte. „Wenn sie dann
morgen früh — sprach er — in die Messe gehen will, wird sie den Schatz
schon finden." Und des andern Morgens bereitet sich Kriemhilde zur
Kirche zu gehen; ein Kämmerer geht ihr voran und sieht den Leichnam.
„Frau", sagt er, „da liegt vor der Thür ein erschlagener Ritter!" Ein
lauter Schrei des Entsetzens ist Kriemhildcns Antwort: sie weiß, wer da
erschlagen liegt, ohne daß man es ihr gesagt hat. Und als sie nun den
Erschlagenen sieht, vom Blute übergössen und die edlen Züge starr vom
Todeskampfe, da ruft sie: „Du bist ermordet, dein Schild ist nicht zer¬
hauen. Wehe, wehe dem Mörder!"
Siegfried's Mannen und der greise Vater Siegmund werden geweckt;
lauter Jammer erfüllt weit und breit die Höfe und Säle und die treuen
'-Mannen schaaren sich zur Rache zusammen. Kriemhilde aber wehrt mit
aller Macht und spricht: „Noch ist es nicht Zeit zur Rache, aber sie wird
kommen!" Als der Todte auf der Bahre liegt, kommt der König mit
seinen Leuten; auch Hagen tritt herzn. Kriemhilde aber wartet des Bahr¬
rechts — einer Volkssitte und eines Volksglaubeus, der noch heute nicht
ganz erstorben ist. Wcun der Mörder dem Gemordeten nahe tritt oder
gar dessen Leichnam berührt, so öffnen sich die Wunden und das Blut
fließt von Neuem. Und siehe, da König Günther der trauernden Wittwe
eben einreden will, der Held sei von Raubmördern erschlagen, da tritt
Hagen heran und die Wunden fließen. „Ich kenne den Mörder schon",
ruft die arme Krieinhilde, „und Gott wird die Frevelthat rächen!" Der
Leichnam wird eingesargt und zu Grabe getragen; Kriemhilde folgt mit
unendlichem Jammer und ringt bis zum Tode. Noch ein Mal begehrt sie
das schöne Haupt des Geliebten zu sehen und der köstliche Sarg, aus Gold
und Silber geschmiedet, wird aufgebrochen. Da führt man sie herbei und
mit ihrer weißen Hand hebt sie noch ein Mal das Heldenhaupt empor und
drückt einen Kuß aus die bleichen Lippen.
Roland's des Kühnen Tod*).
1.
Nachdem der herrliche Kaiser Karl sich Spanien unterworfen und zum
Glauben an Gott und seine heiligen Apostel bekehrt hatte, zog er zurück
') Nach O. Klopp.