Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

93 
davon laßt sich nichts abmarkten. Wer einmal gestohlen hat, der kann 
sein Lebenlang nimmer mit Wahrheit und mit frohem Herzen sagen: 
„Gottlob! ich habe mich nie an fremdem Gute vergriffen;" und wenn 
der Dieb erhascht und gehängt wird, alsdann ist einmal nicht keinmal. 
Aber das ist noch nicht alles, sondern man kann meistens mit Wahrheit 
sagen: „einmal ist zehnmal und hundert- und tausend¬ 
mal." Denn wer das Böse einmal angefangen hat, der setzt es gemeiniglich 
auch fort. Wer A gesagt hat, der sagt auch gemeiniglich gern B, und da 
tritt zuletzt ein anderes Sprichwort ein, daß der Krug so lange zum 
Brunnen gehe, bis er bricht. 
153. Dr. 2iither's Wohlthätigkeit. 
Ein Mann, der um des Glaubens willen vertrieben war, sprach 
Dr. Luther einst um eine Gabe an. Luther hatte selber nur einen Thaler 
in seiner Kasse, den er lange aufgespart hatte. Solche Geldstücke wurden 
damals Joachimsthaler genannt, nach der Stadt Joachimsthal am Erz¬ 
gebirge, wo sie geprägt wurden; davon heißen sie heutzutage Thaler. Als 
Luther nun angesprochen ward, bedachte er sich kurz, griff fröhlich nach dem 
Thaler mit den Worten: „Jochen, heraus, der Herr Christus ist da," 
und gab ihn dem armen Manne. 
Einmal kam zum Dr. Luther ein armer Student, der nach Hause 
reisen wollte und doch kein Reisegeld hatte. Er bat Luther um eine Gabe; 
der aber hatte diesmal selber gar kein Geld und wurde sehr betrübt, daß 
er nichts zu geben hatte. Wie er so traurig in der Stube umhersah, erblickte 
er einen schönen silbernen Becher, den er von seinem Kurfürsten zum 
Geschenk erhalten hatte. Da lief er mit fröhlichem Blick hinzu, ergriff das 
Kleinod und reichte es dem Studenten, indem er sprach: „Ich brauche 
keinen silbernen Becher." Und als der Student sich weigerte, ihn anzu¬ 
nehmen, drückte Luther den Becher mit seiner kräftigen Hand zusammen 
und sprach: „Da nimm ihn, trag' ihn zum Goldschmidt, und was du 
dafür lösest, das behalte." 
154. Das Vogelgeschrei. 
Der reiche Kaufmann Sondersleben in Frankfurt am Main hielt die 
Gebote des Herrn seines Gottes. Er hatte sie nicht bloß in seiner Bibel 
stehen, sondern sie waren ihm auch tief in's Herz geschrieben. Aber er 
achtete auf Vogelgeschrei wie der König Manasse von Juda, und doch 
anders als dieser, nämlich also. 
Wenn im Spätherbst die ersten Schneegänse dahin zogen und den 
Winter ansagten, so ging er in sein großes Kornhaus. Darin lagen 
große Haufen von Roggen und Weizen aufgeschüttet; von diesem Getreide 
maß er viele Himten ab und schickte sie dem Bäcker, der neben der Dom¬ 
kirche wohnte. Der buk dann Brot daraus. Den andern Tag kamen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.