15. Die Künste.
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zeugen, eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an, als
Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es dem kon¬
sequenten Bösewichte nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige
Umkehrung der Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willens¬
fertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden.
Woher sonst kaun es kommen, daß wir den halbguten Charakter mit
Widerwillen von uns stoßen und dem ganz schlimmen oft mit schauernder
Bewunderung folgen? Daher unstreitig, weil wir bei jenem auch die
Möglichkeit des absolut freien Wollens aufgeben, diesem hingegen es in
jeder Äußerung anmerken, daß er durch eineu einzigen Willensakt sich zur
ganzen Würde der Menschheit aufrichten kann.
In ästhetischen Urteilen sind wir also nicht für die Sittlichkeit an
sich selbst, sondern bloß für die Freiheit interessiert, und jene kann nur
insofern unserer Einbildungskraft gefallen, als sie die letztere sichtbar macht.
Es ist daher offenbare Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische
Zweckmäßigkeit in ästhetischen Dingen fordert und, um das Reich der
Vernunft zu erweitern, die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Ge¬
biete verdrängen will. Entweder wird man sie ganz unterjochen müssen,
und dann ist es um alle ästhetische Wirkung geschehen, oder sie wird mit
der Vernunft ihre Herrschaft teilen, und dann wird für Moralität wohl
nicht viel gewonnen sein. Indem man zwei verschiedene Zwecke verfolgt,
wird man Gefahr laufen, beide zu verfehlen. Mau wird die Freiheit
der Phantasie durch moralische Gesetzmäßigkeit fesseln und die Notwendig¬
keit der Vernunft durch die Willkür der Einbildungskraft zerstören.
Fr. v. Schiller K
15. Die Künste.
Die Maler lieben es, die Musen nicht einzeln, sondern in schön ver¬
schlungener Gruppe darzustellen. So möge auch uns, die wir uns vor¬
gesetzt haben, das Verhältnis der Tondichtung zur Wortdichtung zu unter¬
suchen, ein Blick auf die Reihenfolge der schönen Künste vergönnt sein,
auf ihr Verhältnis zu einander, auf ihre Berührungspunkte und ihre stetige
Entwicklung, insbesondere aber uns klar zu machen, wo bei jeder Kunst
das Formale, wo das Jdealmomeut zu suchen sei. Wir wollen uns im
vorhinein erinnern, daß den Lebensüther aller Künste die Poesie bildet,
eben jenes verklärende Jdealmoment, und daß sie, die Poesie, uns endlich
als eigene, selbständige Kunst entgegentritt — ähnlich wie die Philosophie
nicht bloß die Grundlage aller einzelnen Wissenschaften ist, sondern auch
als abgegrenzte Wissenschaft für sich allein erscheint. Der Weg, den wir
1 Siehe Teil II, S. 293.