Full text: Zweites und drittes Schuljahr (Teil 1)

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fünfundsiebzig Jahre, aber ich fühle mich noch kräftig und gesund, und 
das Geschäft geht auch nicht schlecht. Man mutz dem lieben Gott für 
alles danken!" 
„Wollen Sie sich denn noch nicht zur Ruhe setzen?" fragte ich sie. 
„Ach gar, Herr Doktor, was Sie denken! Warum soll ich denn schon 
Feierabend machen, wenn ich noch arbeiten kann? Und dann, wissen 
Sie, ich halte es zu Hause in der engen Stube auch nicht aus. Seit fünf¬ 
undvierzig Jahren sitze ich nun an dieser selben Stelle auf den: Markte, 
immer in Gottes freier Natur. Ich kenne beinah jeden, der hier vorüber¬ 
kommt, und die Leute kennen mich auch und sind freundlich mit mir und 
kaufen bei mir. Nein, Herr Doktor, hier will ich sitzen, bis der liebe Gott 
selbst sagt: „Nun, Mutter Mehlmann, nun ist's genug. Nichts für ungut, 
Herr Doktor." 
„Na, Mutter Mehlmann, es war gut gemeint. Behüt' Sie Gott!" 
II. Mutter Mehlmann und ihre Binder. 
1. Wer die Mutter Mehlmann ist, werdet ihr, liebe Leser, wohl 
schon aus ihren Reden gemerkt haben. Sie hatte die Wahrheit gesagt. 
Seit fünfundvierzig Jahren hält sie an derselben Stelle auf dem Markte 
Obst und Gemüse feil. Damals war ihr der Mann gestorben. Es waren 
drei Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen, da. Die Witwe verlor den 
Mut und das Gottvertrauen nicht. Sie mutzte sich und ihre Kinder er¬ 
nähren und fing einen Gemüsehandel an. Den ganzen Tag, vom frühen 
Morgen bis zum Dunkelwerden, fatz sie auf dem Markte. Die Kinder 
waren den Tag über in der Kinderbewahranstalt untergebracht. Da 
hatten sie Aufsicht und Pflege, und die Mutter brauchte sich nicht um 
sie zu sorgen. Dann kamen die Kinder in die Schule und lernten sleitzig 
und waren brav und ordentlich. Nach dem Unterrichte besuchten sie die 
Mutter auf dem Markte und erzählten ihr, wieviel Schönes und Neues 
sie wieder gelernt hatten. Sie besorgten auch für die Mutter Eeschäfts- 
wege und brachten ihr manches Geldstück, das sie als Botenlohn erhalten 
hatten. Wenn die Mutter am Abend nach Hause kam, sah sie nach, ob 
die Kinder ihre Schularbeiten gemacht hatten und brachte ihre Kleider 
in Ordnung. So ging es alle Tage. 
2. Als die Knaben grötzer und stärker wurden, halfen sie der Mutter, 
ehe sie früh in die Schule gingen. Auf einem Handwagen fuhren sie 
den Stand und die Waren der Mutter auf den Markt. Unten im Wagen 
lagen die Säcke und Körbe mit grünen Waren, darüber waren die Bretter, 
die als Tisch dienten, gelegt, und obenauf lag ein mächtiger Schirm aus 
grauer Leinwand. Den Stuhl trug die Mutter selbst und schob hinten 
am Wagen. Wie freuten sich die Knaben, als sie den grotzen, schweren 
Schirm schon allein aufspannen und in den Ständer stecken konnten!
	        
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