58 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, b) Griechische Sagen,
Hieraus ergeben sich leicht die übrigen Seiten ihres Wesens. Sie
ist zunächst Beschirmerin und Erhalterin der Staaten, und alles, was
das Gedeihen derselben in Krieg und Frieden fördert, geht von ihr
aus, ist ihr Werk und ihre Erfindung. Daher erscheint sie sowohl als
Kriegs- wie als Friedensgöttin. Als Kriegsgöttin begleitet sie das
ausziehende Heer, feuert es zu mutigem Kampfe an, verleiht ihm Sieg
und Beute. Nicht minder aber schirmt sie daheim Städte und Burgen
mit der Macht ihres Armes. Bei Homer erscheint sie außerdem als
die wohlthätige Beraterin und Beschützerin einzelner Helden, als des
Odysseus, Achilles und Diomedes. Sie hat den Menschen die Zucht
und Bändigung der Rosse, Wagen- und Schiffsbau gelehrt, die Kriegs-
Irompete und Flöte erfunden. Als Kriegsgöttin trägt sie regelmäßig
außer Helm, Schild und Lanze das schreckliche Gorgoneion oder die
Ägis. Letztere erscheint bei Homer noch als Schild des Zeus, den sie
dann von ihm entleiht; bei den späteren Dichtern aber und auf den
Denkmälern der Kunst ist sie ein mit Drachenschuppen und Schlangen
umsüumter Panzer, in dessen Mitte sich das schreckliche, einen jeden,
der es anblickt, in Stein verwandelnde Haupt der Medusa befindet.
Nicht minder segensreich erweist sich aber Athene als Friedens¬
göttin. Alles, was in leiblichen wie in geistigen Dingen die Wohl¬
fahrt und geisüge Bildung der Menschen fördert, dachte man sich von
ihr ausgehend oder unter ihrer Einwirkung stehend. Daher werden
allerlei nützliche Erfindungen ihr zugeschrieben. Sie gab den Menschen 0
den Rechen und den Pflug, sie erfand den Spinnrocken und den Web¬
stuhl sowie das kunstvolle Färben der gewebten Stoffe, anderer weib¬
licher Kunstfertigkeiten nicht zu gedenken. Bei späteren Dichtern er¬
weitert sich diese Vorstellung von der kunstfertigen Göttin immer mehr
zu der einer Vorsteherin aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe. .
Außerdem ist sie auch Athene Hygiea, d. h. eine Heilgöttin, welche
gesunde Luft verleiht, bösen Seuchen wehrt und das Wachstum und
fröhliche Gedeihen der Landesjugend fördert.
Daß der Dienst einer so segensreichen und für das ganze mensch¬
liche Leben bedeutsamen Göttin in Griechenland die weiteste Verbreitung
hatte, darf uns hiernach nicht Wunder nehmen. Nirgends aber wurde
sie mehr verehrt als in Athen, wo sie eigentliche Landesgottheit war
und in dem auf der Akropolis unter Perikles aus pentelischem Mormor
errichteten Parthenon, d. i. Tempel „der jungfräulichen Göttin, ihr be¬
rühmtestes Heiligtum hatte, dessen Überreste noch heute das Staunen
und die Bewunderung der Welt erregen. Das ganze attische Land
erschien gewissermaßen als ein Privateigentum der Göttin, das sie sich
nach einer bekannten Sage im Wettkampf mit dem Meerbeherrscher
Poseidon erstritten hatte. Zeus hatte nämlich demjenigen von ihnen
die Herrschaft über Attika bestimmt, welcher dem Lande das nützlichste
Geschenk machen würde. „Da erschuf Poseidon das Pferd, Athene aber
ließ den nutzbringenden Ölbaum aus der Erde aufsprießen und gewann
damit den Sieg über ihren Nebenbuhler. Dieser von der Göttin ins
Dasein gerufene heilige Ölbaum wurde in dem Erechtheustempel aus