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seinen braven Kindern freuen nach Herzenslust. Ich will nur einen
andern Rock anziehen; gleich bin ich wieder da.“
Sein kleiner Sohn, voll Freude darüber, hüpfte lustig in dem
Zimmer herum und stieß aus Unvorsichtigkeit einen Krug vom
Tische herab. Elise, seine Schwester, begab sich sofort daran,
die Scherben aufzuheben. Da kam der Vater herein. „Nun, Elise,
was hast du angerichtet?“ fragte er etwas unwillig. — „O, lieber
Vater,“ sagte das Mädchen ganz erschrocken, „sei doch nicht böse!“
— „Böse,“ antwortete der Vater, „bin ich nicht; aber da auch an
einem fremden Orte die Krüge vor dir nicht sicher sein würden,
so darf ich dich heute nicht mitnehmen.“ — „Ich will gerne zu
Hause bleiben,“ sagte das gute Kind, „wenn du mir nur nicht
böse bist.“ Da konnte sich ihr Bruder nicht länger halten;
er trat mit weinenden Augen vor den Vater hin und sagte: „Ich
habe den Krug zerbrochen und nicht die Schwester, ich muß zu
Hause bleiben.“
Der Vater, voll Freude über das gute Herz der Kinder und
über ihre Liebe untereinander, nahm sie in seine Arme und sprach:
„Ihr seid beide meine lieben Kinder und sollt beide mit mir gehn.“
76* I)etcUni*OSUin* Von Motfgang von Goethe.
Goethes Werke. Herausgegeben im Aufträge der Großherzogin Sophie von Sachsen.
1. Band. (Gedichte. 1. Teil.) Weimar 1887. 8. 16.
1. Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
war so jung und morgenschön,
lies er schnell, es nah zu sehn,
sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein aus der Heiden.
2. Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!"
Röslein sprach: „Ich steche dich,
daß du ewig denkst an mich,
und ich will's nicht leiden."
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein aus der Heiden.
3. Und der wilde Knabe brach
's Röslein aus der Heiden,