Full text: Deutsches Dichterbuch ([Teil 2]. Bd. 4, Hälfte 2, [Schülerbd.])

Annette von Droste-Äülshoff. 
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Lind vor dem Leiland stieg das Kreuz 
empor; 
daran sah seinen eignen Leib er hangen, 
zerrissen, ausgespannt; die Stricke drangen 
die Sehnen an den Gliedern ihm her¬ 
vor. 
Die Nägel sah er ragen und die Krone 
auf seinem Laupte, wo an jedem Dom 
ein Blutestropfen hing, und wie im 
Zom 
murrte der Donner mit verhaltnem 
Tone. 
Ein Tröpfeln hört' er, und am Stamme 
leis 
herniederglitt ein Wimmern qualverloren. 
Da seufzte Christus, und aus allen Poren 
drang ihm der Schweiß. 
And dunkler ward die Nacht, im grauen 
Meer 
schwamm eine tote Sonne, kaum zu 
schauen 
war noch des qualbewegten Lauptes 
Grauen, 
im Todeskampfe schwankend hin und her. 
Am Kreuzesfuße lagen drei Gestalten; 
er sah sie grau wie Nebelwolken liegen, 
er hörte ihres schweren Odems Fliegen, 
vor Zittern rauschten ihrer Kleider 
Falten. 
O, welch ein Lieben war wie seines 
heiß? 
Er kannte sie, er hat sie wohl erkannt: 
das Menschcnblut in seinen Adern stand, 
und stärker quoll der Schweiß. 
Die Sonnenleiche schwand, nur schwarzer 
Rauch, 
in ihm versunken Kreuz und Seufzerhauch; 
ein Schweigen, grauser als des Donners 
Toben, 
schwamm durch des Äthers sternenleere 
Gassen; 
kein Lebenshauch auf weiter Erde mehr; 
ringsum ein Krater, ausgebrannt und leer, 
und eine hohle Stimme rief von oben: 
„Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich 
verlassen!" 
Da faßten den Erlöser Todeswehn, 
da weinte Christus mit gebrochnem Munde: 
„Lerr, ist es möglich, so laß diese Stunde 
an mir vorübergehn I" 
Ein Blitz durchfuhr die Nacht; im Lichte 
schwamm 
das Kreuz, o strahlend mit den Marter¬ 
zeichen, 
und Millionen Lände sah er reichen, 
sich angstvoll klammernd um den blut'gen 
Stamm, 
o Länd' und Ländchen aus den fernsten 
Zonen! 
And um die Krone schwebten Millionen 
noch ungeborner Seelen, Funken gleichend; 
ein leiser Nebelhauch, dem Grund ent¬ 
schleichend, 
stieg aus den Gräbern der Verstorbnen 
Flehn. 
Da hob sich Christus in der Liebe Fülle, 
und: „Vater, Vater," rief er, „nicht mein 
der deine mag geschehn!" sWille, 
Still schwamm der Mond in Blau, ein Lilienstengel 
stand vor dem Leiland im betauten Grün; 
und aus dem Lilienkelche trat der Engel 
und stärkte ihn.
	        
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