Full text: Deutsches Lesebuch (Theil 2)

18 
„Meines Gleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin 
ein so sonderbarer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer 
Freundschaft wohl werth bin." 
„Und wie sonderbar bist du denn?" 
„Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, 
und wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich 
blos von todten Schafen. Ist das nicht löblich? Erlaube 
mir also immer, daß ich mich dann und wann bei deiner 
Heerde einftnden und nachfragen darf, ob dir nicht — 
„Spare deine Worte, sagte der Schäfer. Du müßtest 
gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal todte, wenn ich 
dein Feind nicht sein sollte. Ein Thier, das mir schon 
todte Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe 
für todt und Gesunde für krank ansehen. Apache auf meine 
Freundschaft also keine Rechnung und geh'." 
6. 
Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um 
zu meinem Zwecke zu gelangen, dachte der Wolf, und kam 
zu dem sechsten Schäfer. 
„Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf. 
„Dein Pelz? sagte der Schäfer. Laß sehen! Er ist 
schön; die Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben." 
„Nun so höre, Schäfer; Ich bin alt, und werde es 
nicht lange mehr treiben. Füttre mich zu Tode, und ich 
vermache dir meinen Pelz." 
„Ei, sieh doch! sagte der Schäfer. Kommst du auch 
hinter die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein, dein 
Pelz würde mir am Ende siebenmal mehr kosten, als er 
werth wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk 
damit zu machen, so gieb mir ihn gleich jetzt. Hiemit griff 
der Schäfer nach der Keule, und der Wolf entfloh. 
7. 
O, die Unbarmherzigen! schrie der Wolf, und gerieth 
in die äußerste Wuth. So will ich auch als ihr Feind 
sterben, ehe mich der Hunger tödtet, denn sie wollen es 
nicht besser! 
Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß 
ihre Kinder nieder, und ward nicht ohne große Mühe von 
den Schäfern erschlagen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.