Full text: Deutsches Dichterbuch ([Teil 2]. Bd. 4, Hälfte 2, [Schülerbd.])

Karl Gerok. 
Seid eingedenk! — wenn die Versuchung 
und Welt und Sünde lockt, snaht 
wenn ungewiß auf blumenreichem Pfad 
der Fuß des Pilgers stockt; 
dann denkt, was ihr so fest gelobet, 
dann sorgt, daß ihr die Treu' erprobet, 
seid eingedenk! 
Seid eingedenk, wenn in des Lebens Not 
die Freudensonne bleicht, 
wenn über Wangen, heute frisch und rot, 
des Kummers Zähre schleicht; 
dann denkt: Ob all dem Weltgetümmel 
wohnt mir ein treuer Freund im Pimmel; 
seid eingedenk! 
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Seid eingedenk des hohen Vaterlands, 
das eurer Wallfahrt Ziel; 
verscherzet nicht den ew'gen Ehrenkran- 
um Tand und Kinderspiel; 
der Krone, die am Ziele blinket, 
der Palme, die dem Sieger winket, 
seid eingedenk! 
Seid eingedenk! — O großes Pirtenherz, 
du hast sie dir erkauft; 
du blutetest um sie im Todesschmerz, 
auf dich sind sie getauft; 
wir lassen sie in deinen Pänden, 
du woll'st das gute Werk vollenden: 
sei eingedenk! 
4. Golgatha. 
»Ich bin durch viele Zeilen, 
wohl gar durch Ewigkeiten 
in meinem Sinn gereift: 
doch wo ich hingekommen, 
nichts hat mir's Lerz genommen 
als Golgatha, Golt sei gepreistl' 
Zinzendorf. 
Durch manche Länderstrecke 
trug ich den Wanderstab, 
von mancher Felsenecke 
schaut' ich ins Tal hinab. 
Doch über alle Berge, 
die ich auf Erden sah, 
geht mir ein stiller Pügel, 
der Pügel Golgatha. 
Er ragt nicht in die Wolken 
mit eisgekrönter Stirn, 
er hebt nicht in die Lüfte 
die sonnige Alpenfirn; 
doch so der Erd' entnommen 
und so dem Pimmel nah 
bin ich doch nie gekommen 
wie dort auf Golgatha. 
Es trägt sein kahler Gipfel 
nicht Wälderkronen stolz, 
nicht hohe Eichenwipfel, 
'nicht köstlich Zedernholz; 
doch alle Königszedern, 
die einst der Permon sah, 
sie neigen ihre Kronen 
dem Kreuz auf Golgatha. 
Nicht gibt es dort zu schauen 
der Erde Perrlichkeit, 
nicht grün gestreckte Auen, 
nicht Silberströme breit; 
doch alle Pracht der Erde 
verging mir, als ich sah 
das-edle Angesichte 
ain Kreuz auf Golgatha. 
Kein Bächleirr quillt kristallen 
dort aus bemoostem Stein, 
nicht stolze Ströme wallen 
von jenen Pöh'n landein; 
Doch rinnt vom Stamm des Kreuzes 
in alle Lande da 
ein Born des ew'gen Lebens, 
das Blut von Golgatha.
	        
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